Tübinger Forscher untersuchen Entscheidungsfindung

Die Qual der Wahl – was passiert dabei im Gehirn?

Was passiert im Gehirn, wenn zu viele Produkte eine Entscheidung verlangen? Tübinger Psychiater und Hirnforscher arbeiteten an dieser Frage.

04.10.2018

Von ST

Gut, dass es wenigstens noch eine Einteilung nach Größen gibt. Die Vielzahl der Winterstiefelchen überfordert dennoch die Käufer.Bild: Lindner

Gut, dass es wenigstens noch eine Einteilung nach Größen gibt. Die Vielzahl der Winterstiefelchen überfordert dennoch die Käufer.Bild: Lindner

Zu viele Auswahlmöglichkeiten beim Kauf eines Produktes führen zu einem Gefühl, das als „Qual der Wahl“ bezeichnet wird. Schon länger ist durch wissenschaftliche Untersuchungen bekannt, dass Konsumenten eine große Auswahl an Produkten zwar attraktiv finden, aber sich zunehmend schwer mit der Entscheidung tun.

Ein Team um den Tübinger Wissenschaftler Dr. Axel Lindner von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung hat nun herausgefunden, was bei der „Qual der Wahl“ im Gehirn vor sich geht. Die Ergebnisse der Forschung wurden soeben in der Fachzeitschrift „Nature Human Behaviour“ publiziert, dies teilt die Pressestelle des Uniklinikums dem TAGBLATT mit.

Die Gehirnaktivität in bestimmten Arealen war immer dann am höchsten, wenn die bevorzugte mittlere Anzahl von Möglichkeiten zur Wahl stand. Wird die Auswahl zu groß, übersteigt der Aufwand für die Entscheidung den Nutzen, die Aktivität sinkt, und es entsteht „Qual der Wahl“. Das subjektive Empfinden von „Qual der Wahl“ kann damit objektiv fassbar gemacht werden. Wissen darüber, wie das Verhältnis von Aufwand und Nutzen vom Gehirn berechnet wird, könnte nicht nur für das bessere Verständnis von Entscheidungsprozessen beim nächsten Einkauf relevant sein, sondern auch helfen, einzelne Symptome neuropsychiatrischer Erkrankungen besser zu erklären.

Elena Reutskaja (IESE Business School in Barcelona) und Axel Lindner (Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Universität Tübingen) haben – gemeinsam mit Kooperationspartnern am California Institute of Technology und an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona – untersucht, was bei der „Qual der Wahl“ im Gehirn vor sich geht. Die Aufgabe der Versuchspersonen im Experiment bestand darin, aus einer unterschiedlich großen Auswahl an Bildern das Bild zu wählen, welches auf einem Produkt (T-Shirt, Becher) verewigt werden sollte. Während die Probanden ihre Entscheidungen trafen, wurde ihre Gehirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gemessen.

Es stellte sich heraus, dass die Probanden eine kleine Auswahl an Bildern (6 Fotos) als zu gering ansahen, die Wahl aus 24 Fotos war ihnen dagegen zu schwer. Die optimale Auswahlgröße betrug bei den meisten Versuchspersonen 12 Bilder.

Die Gehirnaktivität in den Basalganglien und dem anterioren cingulären Cortex – das sind Gehirnareale, die an Entscheidungsprozessen beteiligt sind und die mit ihrer Aktivität Motorik und Denkprozesse „motivieren“ – spiegelte die präferierte mittlere Auswahlgröße wider: Die Gehirnaktivität in diesen Arealen war immer dann am höchsten, wenn 12 Bilder zur Wahl standen.

War die Auswahl zu gering oder zu groß, war die Aktivität dagegen niedriger. Wurde dem Angebot ein sehr attraktives Bild hinzugefügt, um der Versuchsperson die Auswahl zu erleichtern, so stieg die Aktivität zwar insgesamt, sie war jedoch immer noch für eine mittlere Auswahlgröße am höchsten.

Reutskaja und Lindner mutmaßen, dass die Aktivität in den Basalganglien und dem anterioren cingulären Cortex die Differenz zwischen dem kleiner werdenden Nutzen eines größer werdenden Auswahlangebots und den steigenden Bearbeitungs-„kosten“ widerspiegelt. Wird die Auswahl zu groß, übersteigen die Kosten den Nutzen, die Aktivität sinkt. Werden die Kosten jedoch reduziert, beispielsweise indem der Computer die Versuchsperson bei der Entscheidung unterstützt, spiegeln die zuvor genannten Gehirnareale dagegen die Präferenz für eine große Auswahl wider, die Aktivität war in diesem Fall bei 24 Fotos am größten.

Die verminderte Motivation und der reduzierte motorische Antrieb, wie sie bei der „Qual der Wahl“ in Gesunden auftreten können, werden übrigens auch bei bestimmten neuropsychiatrischen Krankheiten beobachtet. Wissen darüber, wie das Verhältnis von Aufwand und Nutzen vom Gehirn berechnet wird, könnte folglich nicht nur für das bessere Verständnis von Entscheidungsprozessen, zum Beispiel beim nächsten Einkauf, relevant sein, sondern auch helfen, einzelne Symptome solcher Erkrankungen besser zu erklären.ST

Eine Vorgänger-Untersuchung

Seit der wegweisenden „Marmeladenstudie“ von Sheena Iyengar und Mark Lepper aus dem Jahr 2000 weiß man, dass Konsumenten eine große Auswahl zwar attraktiv finden (24 Marmeladen), aber spätestens dann, wenn es darum geht, sich zu entscheiden, fällt es ihnen schwer, sich auf ein Produkt festzulegen. Oft gehen sie sogar ohne ein Produkt in der Tasche nach Hause. Tatsächlich kaufen mehr Menschen, wenn die Auswahl kleiner ist (6 Marmeladen).

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Erstellt:
04.10.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 04.10.2018, 01:00 Uhr

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