Corona

Kehrtwende ohne Beispiel: Merkels Notbremse

Kurskorrekturen hat die Kanzlerin schon einige hinter sich, aber diese Kehrtwende ist ohne Beispiel. Die Folgen des Oster-Desasters sind noch nicht absehbar.

25.03.2021

Von ELLEN HASENKAMP

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU bei der Regierungsbefragung. Foto: Michael Kappeler/dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU bei der Regierungsbefragung. Foto: Michael Kappeler/dpa

Berlin. Es ist 13.21 Uhr an diesem außergewöhnlichen, wenn nicht historischen Mittwoch, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) offenbar das Gefühl hat, die Sache fürs Erste überstanden zu haben. Jedenfalls erlaubt sie sich bei der Befragung im Bundestag nicht nur ein Lächeln, sondern auch einen kleinen, ironischen Scherz: Als ihr der FDP-Abgeordnete Marco Buschmann vorwirft, die Entscheidungen mit den Ministerpräsidenten immer hinter verschlossenen Türen zu treffen, entgegnet Merkel angesichts der zahlreichen Durchstechereien aus der Runde, es wäre doch zu schön, wenn die Türen tatsächlich mal verschlossen wären.

Indiskretionen sind allerdings inzwischen das geringste Problem von Merkel und ihren Länderkollegen. Die nächtlichen Beschlüsse der jüngsten Tagung haben die Kanzlerin jetzt nicht nur zu einer beispiellosen Selbstkorrektur gezwungen, sondern auch eine politische Krise in Berlin ausgelöst, deren Ende und Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Beschädigt sind Regierungschefin und Ministerpräsidenten, beschädigt ist auch die ganze Art und Weise, wie in Deutschland im Kampf gegen das Virus Politik funktioniert. „Wir können so nicht weitermachen“, sagt NRW-Regierungschef Armin Laschet.

Begonnen hatte das Desaster irgendwann in der Nacht von Montag auf Dienstag. Weil die eigentlich von Merkel bevorzugten Ausgangssperren mit den Ländern partout nicht zu machen waren, wird auf Vorschlag des Kanzleramts erst in kleiner, dann auch in großer Runde die „erweiterte Ruhezeit zu Ostern“ beschlossen. Aber auch einen ganzen Tag später sind weder Bundes- noch Landesregierungen in der Lage, zu erklären, was genau das bedeutet für Arbeitnehmer, für geplante Operationen, für Lieferketten, für Feiertagszuschläge – sprich für das ganze hochsensible, durchgetaktete System namens Bundesrepublik. Er habe nicht gewusst, räumt Laschet am Mittwoch durchaus zerknirscht ein, dass es auch Probleme mit Babynahrung geben könne.

Umstritten waren die Beschlüsse der Ministerpräsidenten-Konferenz schon immer; zu weich, zu hart, zu früh, zu spät. Und schon immer wurde die Unzufriedenheit hauptsächlich bei Kanzlerin Merkel abgeladen. Aber diesmal geht es um etwas anderes, und das ist neu: eklatante handwerkliche Schwäche nämlich. Das hat man so bei der Kanzlerin, die doch sonst sämtliche Verordnungen bis in ihre Unterpunkte runterbeten kann, noch nicht erlebt. Und diese Panne vermengt sich mit der allgemeinen Corona-Müdigkeit zu einer explosiven Mischung. Eine Mischung, die vor allem gefährlich ist für die Union. Denn CDU und CSU beziehen einen Großteil ihrer Attraktivität für die Wähler aus dem Gefühl, der Staat sei bei ihnen in guten Händen.

Und so kommt die Kritik diesmal nicht nur von außen – und sie beschränkt sich auch nicht auf das Feiertags-Schlamassel. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beispielsweise fordert umgehend „Nachbesserungen“ in Sachen Öffnungsperspektive. Innenminister Horst Seehofer (CSU) kritisiert die Gottesdienst-Regelung. Und in der Fraktionssitzung der Union bricht am Dienstagnachmittag ein wahrer Sturm der Entrüstung los.

Merkel, die schon so manche Empörungswelle ausgehalten hat, muss die Notbremse ziehen: Um kurz vor zehn am Mittwochmorgen lädt sie zu einer erneuten Video-Schalte mit den Ministerpräsidenten, in der sie das Aus für die Osterruhe verkündet.

Es ist eine der spektakulärsten Kehrtwenden ihrer Amtszeit und ziemlich sicher die mit der kürzesten Wendezeit. Ausstieg aus der Atomkraft, Ende der Wehrpflicht, Einführung der Ehe für alle; immer wieder hat Merkel ihre Überzeugungen geändert – oder sie zumindest den herrschenden Umständen angepasst. Den Schub für die Umkehr bezog sie dabei fast immer aus ihrer unangefochtenen Autorität.

Jetzt aber muss sie beidrehen, um ihre Autorität zu retten. „Um es klipp und klar zu sagen“, so beginnt Merkel am Mittag, als sie im Bundeskanzleramt vor die Presse tritt, nochmal kurz die Haare sortiert und höflich fürs Kommen gedankt hat. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler.“ Und wäre nicht schon vorher – mal wieder – aus der MPK-Schalte berichtet worden, die Kanzlerin denke nicht an einen Rücktritt, für einen kurzen Moment hätte man auch das nicht ausgeschlossen.

Zumindest im Bundestag funktioniert die demonstrative Verantwortungsübernahme, um die Wogen ein wenig zu glätten. Ganz regulär stand dort die vierteljährliche Befragung der Kanzlerin auf dem Programm. Und während Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch beispielsweise sich noch vor Sitzungsbeginn mit der Forderung nach der Vertrauensfrage zitieren ließ, zerfällt auch dieser Angriff.

Zu verdanken hat Merkel ihre Rettung ausgerechnet einem Abgeordneten der AfD, der in seiner Eröffnungsfrage die Pandemie, Attacken auf Muslime und Vertrauen in die Kanzlerin auf so krude Weise vermengt, dass auch Bartsch nur eines übrig bleibt: Beifall für die Bundeskanzlerin.

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Erstellt:
25.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 16sec
zuletzt aktualisiert: 25.03.2021, 06:00 Uhr

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