Pandemie

Längst nicht nur ansteckender

Die Coronavirus-Mutationen sorgen bei Politik und Experten für große Befürchtungen – die Impfstoffe müssen möglichst rasch angepasst werden.

10.02.2021

Von HAJO ZENKER

Foto: Grafik: Reichelt / Quelle: dpa

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Berlin. Die Zahl der Corona-Neuinfektionen sinkt. Trotzdem schreckt die Politik vor deutlichen Lockerungen zurück. Ein Grund dafür sind die Mutationen, die das Virus ansteckender machen – und immer häufiger das Immunsystem und die bisherigen Impfstoffe ins Leere laufen lassen.

Um welche Mutationen geht es? Zunächst geht es hierzulande um die zuerst in England aufgetauchte Variante B.1.1.7, die ein Paket aus 17 Mutationen beinhaltet und sich als deutlich ansteckender erwies. Weil das Spike-Protein, also die stachlige Oberfläche, leichter an die menschlichen Zellen andocken kann, um sie danach zu zwingen, Corona-Kopien herzustellen. So wurde B.1.1.7 in England zur dominierenden Virusvariante. Dazu kommen die in Südafrika aufgetauchte Variante B.1.351 und die zuerst in Brasilien beschriebene, P.1 getaufte Form.

Was ist das Problem daran? Zunächst einmal sind alle drei Varianten ansteckender, in derselben Zeit können sich also mehr Menschen infizieren. Für den Virologen Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat das auf mehrere Wochen hochgerechnet „eine extreme Auswirkung auf die Gesamtzahl der Infektionen“. Auch wenn die erhöhte Infektiosität nicht unbedingt mit einem schwereren Krankheitsbild zusammenhänge, führe die reine Tatsache, dass mehr Personen erkrankten, „unweigerlich dazu, dass es mehr Todesfälle beziehungsweise mehr belegte Betten gibt“. Doch damit nicht genug: In Brasilien tauchte P.1 in der Stadt Manaus auf, in einer Region, wo drei Viertel der Bevölkerung 2020 eine Infektion mit dem „klassischen“ Virus durchgemacht hatten und man von Herdenimmunität ausgegangen war. Was wohl bedeutet: Die Variante P.1 trickst das menschliche Immunsystem aus. Ähnliches wurde bereits auch in Südafrika beobachtet, wenn auch noch längst nicht in solch großer Zahl.

Zudem zeigt sich, dass die Wirkung der aktuellen Impfstoffe gerade bei B.1.351 und P.1 deutlich nachlässt. In Südafrika wurde deshalb die Impfkampagne mit dem Vakzin von Astra Zeneca abgesagt – eine Studie hatte eine Wirksamkeit von gerade 20 Prozent ergeben. Daran wird nun weiter geforscht, weil die Untersuchten allesamt junge Leute und deshalb kaum von schweren Verläufen gefährdet waren. Allerdings passt das Ganze ins Bild: Während der Impfstoff von Johnson & Johnson bei Tests in den USA eine Wirksamkeit von 72?Prozent erzielte, fiel diese in Südafrika auf 57?Prozent. Bei Novavax betrug der Wert in Großbritannien 90?Prozent, in Südafrika 60?Prozent. Für den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, Arzt und Epidemiologe, ist es für Deutschland unabdingbar, B.1.351, die bereits in Tirol grassiert, aufzuhalten. Ein weiteres Problem: In England sind nun auch Viren aufgetaucht, die sich an die südafrikanische Variante angenähert haben.

Sind Impfungen wegen der Mutationen also sinnlos? Nein, offenbar kommen Geimpfte bei einer Infektion glimpflicher davon. So wurden in einem Altenheim im niedersächsischen Landkreis Osnabrück vierzehn Senioren positiv auf B.1.1.7. getestet, die zuvor zwei Mal mit dem Biontech-Vakzin geimpft worden waren. Alle hatten jedoch nur leichte Verläufe oder gar keine Symptome. Vor einer schweren Erkrankung war man also geschützt. Und für Thomas Mertens, den Chef der Ständigen Impfkommission, „ist das ja auch das Ziel der Impfung“. Dass man sich trotz Impfung infizieren könne, „haben wir immer für möglich gehalten“.

Zudem arbeiten die Pharmaunternehmen daran, die Vakzine anzupassen. Bei Biontech und Moderna soll es in wenigen Wochen so weit sein, Astra Zeneca will eine neue Version entwickeln, die bis zum Herbst einsatzbereit sein soll. Das Tübinger Unternehmen Curevac und der britische Konzern GSK wollen zusammen einen neuen Impfstoff gegen die ansteckenderen Varianten entwickeln. Das Vakzin soll jedoch erst 2022 auf den Markt kommen.

Wie verbreitet sind denn die Mutationen bei uns? Das lässt sich noch schwer sagen. Deutschland hat im Gegensatz etwa zu Großbritannien lange darauf verzichtet, das vollständige Erbgut der Viren in nennenswertem Umfang zu entschlüsseln. Das wurde Mitte Januar korrigiert, muss aber erst noch greifen. Das Robert-Koch-Institut führt bisher offiziell sieben Prozent der Infektionen auf die Mutationen, meist B.1.1.7, zurück. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach gehen aber bereits von einem Anteil von 20?Prozent aus. In der Region Hannover waren bei einer Stichprobe 34 von 74 untersuchten Proben Mutationen. Für Lauterbach verheißt das nichts Gutes: B.1.1.7 und B.1.351 wirkten wie ein „Turbo-Coronavirus“ – „in zehn Tagen verdoppelt sich jeweils ihr Anteil“. Das erhöhe die Gefahr einer dritten Welle ab März.

Wie geht es weiter mit dem Virus? Dass Viren mutieren, ist völlig normal, um die 3000 Varianten soll es schon geben. Allerdings hat sich die Hoffnung, dass Corona damit an Gefährlichkeit verlieren und letztlich für den Menschen harmlos werden könnte, nicht erfüllt. Stattdessen ist jetzt eine Variante in Kalifornien namens B.1.426 aufgetaucht, die fünf Mutationen vereint, in der ebenfalls das Spike-Protein verändert ist und die als aggressiv gilt.

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Erstellt:
10.02.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 10.02.2021, 06:00 Uhr

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