Gazastreifen

Eskalation im Nahen Osten

Seit sieben Jahren gab es keinen derartigen Gewaltausbruch zwischen Israel und den Palästinensern. Worum geht es in dem Konflikt – und welche Rolle spielen Hamas und Fatah?

15.05.2021

Von AGNES FAZEKAS

Zerstörungen nach einem israelischen Luftangriff in Beit Hanun im Gazastreifen. Foto: Ashraf Amra/imago images/ZUMA Wire

Zerstörungen nach einem israelischen Luftangriff in Beit Hanun im Gazastreifen. Foto: Ashraf Amra/imago images/ZUMA Wire

Tel Aviv. Es braucht nicht viel, damit der Nahost-Konflikt hochkocht – aber dieses Mal war selbst Israel überrascht, hatte man doch gerade die Rückkehr ins normale Leben gefeiert. Bald sollte das Land für geimpfte Touristen öffnen. Stattdessen befindet sich Israel nun mit Gaza im heftigsten Luftstreit seit sieben Jahren. Am Freitagmorgen zählte Israel bisher rund 1800 Raketen der radikal-islamischen Hamas, wobei 400 noch im Gazastreifen heruntergingen und ein Großteil durch das Abwehrsystem „Iron Dome“ abgefangen wurde – unter den bisher acht Toten sind zwei arabische Israelis. Israels Bombardement auf Gaza dagegen kostete laut Hamas in vier Tagen Krieg 119 Menschenleben. Wichtige Fragen und Antworten zu dem Konflikt:

Wieso eskaliert der Konflikt ausgerechnet jetzt? Während Israel sich als Corona-Impfweltmeister feierte und Premierminister Benjamin Netanjahu sich um seinen Korruptionsprozess kümmerte, kam in Jerusalems Altstadt viel zusammen: Das jüdische Pessach-Fest kollidierte mit dem Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan und damit dem Anspruch auf Zugang zum umstrittenen Tempelberg. Am Gelände der Aksa-Moschee wurden neue Sicherheitsschranken installiert. Den Ausschlag aber gaben drohende Zwangsräumungen palästinensischer Einwohner in Ost-Jerusalem – damit jüdische Siedler einziehen können.

Angefeuert wurde das Ganze von einem neuen rechtspopulistischen Polizeichef und einem Marsch zum Jerusalem-Tag, mit dem Israel an die Annexion Ost-Jerusalems im Sechstagekrieg von 1967 erinnert. Am Montagmorgen eskalierte die Demonstration mit 300 verletzten Palästinensern. Am Mittag forderte die radikal-islamische Hamas Israel auf, Armee und Polizei vom Tempelberg abzuziehen. Andernfalls würden die „Zionisten“ mit massiven Konsequenzen rechnen müssen. In der Nacht flogen die ersten Raketen aus Gaza gen Jerusalem.

War die Auseinandersetzung absehbar? Mit einem solchen Angriff aus dem blockierten Gazastreifen hatte niemand gerechnet. Seit dem Krieg 2014 hielt sich die Hamas an die „Spielregeln“. Wenn Israel von Absprachen abwich, sandte die Organisation eine „Erinnerung“, normalerweise in Form eines kurzen Raketenfeuers an der Grenze. Der Angriff, erst auf Jerusalem und dann Dienstagnacht auf Tel Aviv, überschritt eine rote Linie. Auch die Menge und Taktung der Raketen der islamistischen Extremisten überraschte Israel. Die Hamas hatte angekündigt, das israelische Raketenabwehrsystem. den „Iron Dome“, dieses Mal zu überfordern. Israel reagierte sofort mit Luftangriffen auf den Gazastreifen, nach Angaben der Armee gezielt auf „Symbole der Hamas-Herrschaft“, Raketenlager und Waffenfabriken. Während die Raketen der Hamas schwer zu steuern sind, kann die israelische Armee ihre Raketen sehr präzise einsetzen – allerdings ist Gaza dicht besiedelt.

Was will die Hamas erreichen? Die israelische Blockade, ägyptische Zugangsbeschränkungen, Wasser und Strom nur in Raten und nicht zuletzt die Pandemie: Im Gazastreifen ist die Situation mehr als prekär. Als der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde nun nach 15 Jahren endlich Neuwahlen ankündigte, hoffte die Hamas, Teil einer neuen Regierung werden zu können, und gab sich im Vorfeld verhandlungsbereit. Aus eben diesem Grund ruderte Mahmoud Abbas, seinerseits Kopf der im Westjordanland regierenden Fatah, nun wohl zurück. Israels Geheimdienst behauptet, die Hamas habe die Unruhen in Jerusalem angefeuert – auch, um auf diese Weise die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu destabilisieren. Mit den Raketen inszeniert sich die Hamas als Verteidigerin der Palästinenser, während Präsident Abbas in Ramallah machtlos erscheint. Der in Katar residierende Hamas-Chef Ismael Hanijah verkündete bereits eine „neue Balance der Macht“. Dass er den Krieg nicht gewinnen kann, weiß er aus Erfahrung. Sein Erfolg ist die Angst in Israel und die Unterstützung der Palästinenser.

Wie geht es weiter? „Das ist erst der Anfang. Wir werden ihnen Schläge versetzen, die sie sich niemals erträumt haben“, erklärte Israels Ministerpräsident Netanjahu. Dabei schienen seine Tage als Regierungsoberhaupt noch am Montag gezählt, weil nach der letzten Parlamentswahl eine erneut Regierungsbildung gescheitert war. Auch Verteidigungsminister Benny Gantz stimmte die Bürger auf einen längeren Militäreinsatz ein, notfalls auch auf eine Bodenoffensive. Von einem angeblich unterbreiteten Angebot zur Waffenruhe will Israel nichts hören. Erst einmal wurde in der Nacht auf Freitag nun ein komplexes Tunnelsystem der Hamas unter Gaza angegriffen.

Dabei muss sich Netanjahu parallel einem zweiten Brandherd stellen. Während es im Westjordanland unter der Palästinensischen Autonomiebehörde immer noch relativ ruhig ist, attackiert ein Mob arabischer Staatsbürger in „gemischten“, bisher recht friedlichen Orten wie Akko oder Lod seit Tagen Synagogen und jüdische Geschäfte. Jüdische Extremisten zogen wiederum durch die Straßen, zündeten „arabische“ Autos an und wurden ebenfalls gewalttätig.

Foto: GRAFIK SCHERER / QUELLE: DPA

Foto: GRAFIK SCHERER / QUELLE: DPA

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Erstellt:
15.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 15.05.2021, 06:00 Uhr

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