75 Jahre Tagblatt

Die TAGBLATT-Gründer wollten „freudige Mitarbeit“

Ulrich Janßen über das heutige Geburtstagskind

21.09.2020

Von Ulrich Janßen

Titelseite der ersten Ausgabe des Schwäbischen Tagblatts vom 21. September 1945 (PDF-Download). Bild: Tagblatt-Archiv

Titelseite der ersten Ausgabe des Schwäbischen Tagblatts vom 21. September 1945 (PDF-Download). Bild: Tagblatt-Archiv

Heute vor 75 Jahren erschien die erste Ausgabe des SCHWÄBISCHEN TAGBLATTS. Optisch war die „Nummer 1“ eine ziemlich triste Angelegenheit, wie man sehen kann. Kein bisschen Farbe, nicht ein Foto, keine Lese-Einstiege, und die Überschriften fielen auch nicht gerade üppig aus.

Trotzdem war das SCHWÄBISCHE TAGBLATT auf Anhieb beliebt. Endlich konnte man wieder erfahren, was in der Welt und daheim alles so passierte: Marlene Dietrich besuchte Berlin, die Kriegsgefangenen aus den USA sollten bald heimkehren, und in Tübingen wurde der „Privatbriefverkehr“ wieder aufgenommen.

Die Auflage der Zeitung stieg rasch. Der Professor und der Metzger, der Fußballspieler und die Regisseurin, die Feministin und der fromme Pietist: irgendetwas Lesenswertes fanden sie alle im TAGBLATT. Jahrzehntelang verband die Zeitung die unterschiedlichsten Gruppen und Leute, und sorgte so dafür, dass sich alle in der Gesellschaft wiederfinden konnten. Natürlich hat man sich auch mal geärgert über einen Bericht, einen Kommentar oder einen Leserbrief. Aber man hat nicht gleich das Abo gekündigt.

Das hat sich geändert. Heute wird gern und oft gekündigt: Der Handyvertrag, die Partei-, Kirchen- oder Vereinsmitgliedschaft, das Zeitungsabo und womöglich auch die Freundschaft. Die Bereitschaft, Missverständnisse auszuräumen, sich zurückzunehmen, es noch einmal zu versuchen, andere Meinungen interessant zu finden oder sie zumindest auszuhalten, ist geringer geworden. „Ich schaue seit Jahren kein Fernsehen mehr“, erzählte neulich ein Besucher in der Redaktion. Objektive Nachrichten finde er dort nicht mehr. Er informiere sich im Internet.

Klar, dass wir Journalisten damit Probleme haben, schließlich leben wir davon, dass man uns Geld für unsere Arbeit gibt. Die meisten Nachrichtenangebote im Internet sind zwar von Interessen gesteuert, aber: kostenlos.

Nun sind auch Journalisten nicht objektiv. Als die Auflagen noch stetig stiegen, sind manche Zeitungen und auch manche Journalisten behäbig geworden. Ihnen fehlte die Bereitschaft, neue Entwicklungen mit Neugierde zur Kenntnis zu nehmen, zu schauen, was sich jenseits des vertrauten sozialen, kulturellen und politischen Umfeldes so tat und darüber nüchtern zu berichten. In den USA wird das zur Zeit heftig diskutiert, nachdem die New York Times in Verdacht geriet, Journalisten vergrault zu haben. Sie hätten unerwünschte Meinungen geäußert. Ausgerechnet die New York Times, die auf nüchterne Berichterstattung immer so viel Wert legt!

Auch dem TAGBLATT wurde viel vorgeworfen in seiner 75-jährigen Geschichte. Den 68ern war das Blatt zu rechts, zu bürgerlich, und den Konservativen war es zu links, sie nannten es die „Neckar-Prawda“. Derzeit attackieren uns vor allem Menschen, die mit der Corona-Politik der Bundesregierung nicht einverstanden sind. Davor waren es die Palmer-Fans und die Palmer-Feinde, die uns einseitige Berichterstattung vorwarfen.

Auch mit 75 werden wir es nicht allen recht machen können, das ist klar. Wir wählen aus und ändern unsere Haltung nicht nach Wetterlage. Wenn wir etwas blöd oder falsch finden, sagen wir das. Aber wir haben immer Wert darauf gelegt, andere Meinungen und Sichtweisen ins Blatt zu holen – nicht nur, aber auch auf der Leserbriefseite. Gleich in der ersten Ausgabe riefen die Gründer ihre Leser „auf zur freudigen Mitarbeit“. Sie sollten schreiben, wie es ihnen „ums Herz ist“. Das hat gewirkt. Im „Sprachrohr“ fliegen immer noch die Fetzen, man streitet mit Herzblut. Und (meistens) mit Respekt.

Wir werden alles dafür tun, dass diese Streitkultur erhalten bleibt. Aber auch die Leser müssen dafür Geduld aufbringen – miteinander und mit der Zeitung. Andere Meinungen auszuhalten, ist nicht leicht. Feinde zu haben, ist leichter und macht das Leben übersichtlich. Auf Dauer aber macht es einsam und starr.

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Erstellt:
21.09.2020, 00:01 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 49sec
zuletzt aktualisiert: 21.09.2020, 00:01 Uhr

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