Pandemie

SWP-Leitartikel: Das Corona-Desaster

Wenn die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin an diesem Montag erneut zu Beratungen über die Corona-Krise zusammentreffen, werden sie sich über ein Desaster beugen müssen.

22.03.2021

Von GUIDO BOHSEM

Berlin. Monatelang hatte die Öffentlichkeit von ihnen ein Konzept gefordert, das der eingesperrten Gesellschaft klar und nachvollziehbar aufzeigt, wie ein verlässlicher Weg aus der Krise aussehen könnte. Was beim letzten Treffen nach mehr als zwölf Stunden Beratung herauskam, war das glatte Gegenteil. Der komplexe „Wenn-Dann“-Plan zerbröselte beim ersten Kontakt mit der Realität. Zwölf Monate nach Beginn der Pandemie haben die obersten Staatsvertreter ihre Deutungshoheit im Umgang mit dem Virus verloren, weil sie es erstens auch nicht besser wissen und weil ihr Plan sich zweitens an ungeeigneten Parametern orientiert.

Schon im Sommer 2020 beklagten erste Experten auch in dieser Zeitung die gigantischen Wissenslücken über die Art und Weise, wie sich das Virus verbreitet. Katastrophale Monate später hat sich daran nichts geändert. Die Zahlen des Robert Koch-Institut geben es nicht her und eine systematische Untersuchung – also die kontinuierliche Testung einer großen, repräsentativen Bevölkerungsgruppe durch engmaschige Tests – gibt es immer noch nicht.

Stattdessen wurden Glühweinstände im Freien als sündiger Hedonismus verteufelt, Minderjährige durch Parks gejagt, weil sie es wagten, Freunde zu treffen, und ja, auch der Verkauf von Alkohol nach 23 Uhr wurde unterbunden. Nach dem Motto: alles, was Spaß macht, muss zwangsläufig ins Verderben führen oder zumindest zum Hotspot eskalieren. In Wahrheit tapsen die deutschen Regierungschefs immer noch durch die Krise wie durch einen unbekannten, stockdusteren Raum, der vollgestellt ist mit scharfkantigem Mobiliar. Auf den Gedanken, vielleicht einmal den Lichtschalter umzulegen, kommt offenbar keiner.

Stattdessen hält die Corona-Runde verzweifelt an dem einen Indikator fest, der sich sicher ermitteln lässt, der Sieben-Tage-Inzidenz. Dass dieser Wert aber durch die (richtigen) massenhaften Selbsttestungen von Menschen auch ohne Krankheitsanzeichen nach oben getrieben wird, blieb unberücksichtigt. Dass der Wert sogar mit der fortschreitenden Impfung älterer Menschen neu zu interpretieren ist – weil bei gleicher Inzidenz weniger Corona-Patienten auf der Intensivstation landen und sterben –, floss auch nicht in den Plan ein.

Derzeit drängt die Frage in den Mittelpunkt der Debatte, ob der Impfstoff nicht auch durch die niedergelassen Ärzte an die Frau und den Mann gebracht werden kann. Dagegen spricht erst einmal nichts, außer vielleicht der Frage: welcher Impfstoff eigentlich? Das dürfte der sein, den die USA, Großbritannien, Israel und andere Länder Mitte 2020 gekauft haben, während die EU mit Einverständnis der Kanzlerin möglichst niedrige Preise verhandelte, über Haftungsfragen räsonierte und Interessen der Einzelstaaten berücksichtigte. Ostern fällt wieder aus – und diesmal liegt es nicht alleine am Virus.

leitartikel@swp.de

Zum Artikel

Erstellt:
22.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 17sec
zuletzt aktualisiert: 22.03.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Recht und Unrecht
Sie interessieren sich für Berichte aus den Gerichten, für die Arbeit der Ermittler und dafür, was erlaubt und was verboten ist? Dann abonnieren Sie gratis unseren Newsletter Recht und Unrecht!