Berlin

Leitartikel: Chance für Sputnik

Als es darum ging, möglichst schnell möglichst viel Impfstoff zu organisieren, geriet Europa rasch ins Hintertreffen. Deshalb bildete Gesundheitsminister Jens Spahn mit Frankreich, Italien und den Niederlanden eine Impfstoff-Allianz.

09.04.2021

Von HAJO ZENKER

Berlin. Die Kanzlerin pfiff ihn zurück. Kurz vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wollte das besonders europafreundliche Deutschland nicht bezichtigt werden, Alleingänge zu unternehmen. Alle 27 Mitgliedsstaaten sollten profitieren, gerade die kleineren. Doch unter den kleineren Ländern gab es viele, die eine ausreichende Beschaffung der aussichtsreichsten Vakzine verhinderten. Zu unheimlich war ihnen die neue mRNA-Technologie von Biontech und Moderna – und viel zu teuer dazu. Lieber wollte man etablierte Konzepte und Anbieter – wie Astrazeneca oder Sanofi.

Astrazeneca aber sorgt permanent für Ärger – wegen Lieferproblemen und der Frage, ab welchem Alter man impfen sollte. Ein totales Durcheinander – und die Länder gehen höchst unterschiedlich mit den Risiken um. Sanofi hat bis heute kein Produkt, das auch nur in die Nähe einer Zulassung kommt. Deutschland bestellte deshalb bei Biontech und Moderna nach. Zu spät, um wie in Israel, England oder den USA in kurzer Zeit große Teile der Bevölkerung immunisieren zu können. Anfangs allein auf Brüssel gesetzt zu haben, hat sich als Fehler erwiesen.

Und das schädliche Gezerre wiederholt sich. Die EU-Kommission hat gerade so gar keine Lust, den russischen Impfstoff Sputnik V zu bestellen. Das Zulassungsverfahren bei der zuständigen Ema zieht sich hin. Man darf unterstellen, dass es dabei nicht allein um die Qualität des Vakzins geht. Ja, die politischen Beziehungen zu Russland sind schlecht. Aber darf das in der Bekämpfung der Pandemie tatsächlich eine Rolle spielen? Keine Frage: Für das viel zu schnell in Russland zugelassene Vakzin gab es anfangs viel zu wenig Daten. Mittlerweile aber ist Sputnik nicht nur in über 50 Ländern zugelassen, sondern auch massenhaft verimpft – wenn auch ausgerechnet in Russland eher weniger, weil dort die Impfskepsis groß ist.

Viele Experten jedenfalls sind sich sicher, dass das Produkt sehr wohl sehr wirksam ist. Wenn sich also herausgestellt hat, dass Sputnik V wirkt und im bayerisch-schwäbischen Illertissen unter Aufsicht bayerischer Behörden produziert werden könnte – was spricht denn da gegen eine Verwendung? Kein Wunder, dass angesichts der noch immer viel zu wenigen Impfdosen im Land erst Bayern Sputnik bestellt hat, Mecklenburg-Vorpommern nachzog und nun auch Spahn darüber verhandeln will. Eine nationale Zulassung, wenn die EU weiter mauert, dürfte folgen. Wer darauf wartet, dass der letzte Bedenkenträger in den 27 EU-Staaten mitzieht, wird den Kampf gegen die Pandemie nicht gewinnen können.

Ohne Unmengen von Vakzin kommen wir nicht aus der Krise. Es ist davon auszugehen, dass es mit zwei Impfungen nicht getan ist. Wir werden auf Monate und Jahre wirksamen, immer wieder neu justierten Impfstoff brauchen. Egal, wer ihn erfunden hat.

leitartikel@swp.de

Zum Artikel

Erstellt:
09.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 21sec
zuletzt aktualisiert: 09.04.2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter los geht's
Nachtleben, Studium und Ausbildung, Mental Health: Was für dich dabei? Willst du über News und Interessantes für junge Menschen aus der Region auf dem Laufenden bleiben? Dann bestelle unseren Newsletter los geht's!