Alles offen, alles neu

Leitartikel von Ulrich Becker zur Bundestagswahl

War da was? Wahlkampf, oder etwas, das so heißt, sich aber nicht so angefühlt hat? Hinter den Deutschen liegt ein Sommer, der nicht nur verregnet war, sondern auch verhagelt durch einen Wahlkampf, dessen inhaltslose Leichtigkeit zum Teil merkwürdige Blüten trieb.

25.09.2021

Von Ulrich Becker

Zumindest haben wir alle dazugelernt: Es gibt nun Trielle statt Duellen, und „Micky-Maus“-Hefte dürfen als Fachliteratur für den Klimawandel herangezogen werden. Was die Befähigung der Kanzlerkandidaten angeht, hält sich der Erkenntnisgewinn allerdings in Grenzen: Ja, wahrscheinlich könnten Olaf Scholz, Annalena Baerbock oder Armin Laschet das Land führen. Aber: Nein, vermutlich würde ihnen das kaum besser gelingen als der müde gewordenen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die nach 16 Jahren Amtszeit noch immer und mit großem Abstand Deutschlands beliebteste Politikerin ist. Ein nach dieser langen Zeit ziemliches Alleinstellungsmerkmal unter westlichen Regierungschefs.

Tatsächlich hatten die Kandidatin und die Kandidaten aber kaum eine Chance, sich über Inhalte zu profilieren. Stattdessen wird man eines Tages in der Rückschau erstaunt feststellen, dass ein geschönter Lebenslauf und ein Lacher am falschen Ort zur falschen Zeit den Grünen und der Union soviel Renommee gekostet haben, dass ihre Träume vom Kanzleramt jäh platzten oder zumindest sehr unwahrscheinlich geworden sind. Es genügte Olaf Scholz und seiner über Monate bei 15 Prozent klebenden SPD, genüsslich zuzuschauen, um in den letzten sechs Woche alle Konkurrenten zu überholen. Das Erfolgsrezept: Mache keine Fehler und lerne von der Chefin. In diesem Falle war das die Gelassenheit und Gestik der Bundeskanzlerin. Allein das reichte aus, um bei vielen Bürgern ein Gefühl auszulösen, Frau Merkel sei noch da – wiedergeboren in Olaf Scholz.

Ganz gleich, ob sich am Sonntagabend diese Taktik als die erfolgreichste erweist oder die Union auf der Zielgeraden die SPD noch überholt – in der Folge dieses Wahlkampfs ist auch klar, dass nichts so bleibt wie es war. Der Wunsch der meisten Wähler – immerhin sind 38 Prozent der 60 Millionen Wahlberechtigten 60 Jahre und älter – nach Stabilität wird ein Wunsch bleiben. Denn hinter dem Wahlergebnis, das keinen klaren Sieger bringen wird, stehen zudem Parteien, die innerlich zerstritten sind. Bei der Union wird nach einem 20-Prozent-plus-Ergebnis kein Stein auf dem anderen bleiben, in Berlin wird der Putsch gegen Laschet längst geplant. In der SPD scharren Saskia Esken und Kevin Kühnert mit den Hufen. Olaf Scholz wird für die erstaunliche Geschlossenheit der Partei zahlen müssen – ob diese Schuld für ein Bündnis mit den Linken reicht, ist nicht ausgeschlossen. Selbst die Grünen werden Annalena Baerbock Fragen stellen – allen voran Robert Habeck, der die Fehler seiner Kollegin schweigend, aber nicht zustimmend ertragen hat.

Alles offen, alles neu. Spannend, zum Teil verstörend. Angela Merkel kann uns dieses Mal nicht retten.

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Erstellt:
25.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 18sec
zuletzt aktualisiert: 25.09.2021, 06:00 Uhr

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