Wettbewerb „Mensch und Maschine“

Drittplatzierter Text des KI-Kurzgeschichten-Wettbewerbs: „Zeitalter Zwei“

Dieser Text des Tübingers Benjamin Voßler ist der Drittplatzierte des Wettbewerbs „Mensch und Maschine“, den das TAGBLATT gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik veranstaltet hat.

10.11.2023

Von Benjamin Voßler

Der Priester stößt sich schwungvoll vom Käfig ab und wendet sich ans Publikum. „Sie weiß es nicht!“, verkündet er laut. Bild: Eike Freese / Dall E

Der Priester stößt sich schwungvoll vom Käfig ab und wendet sich ans Publikum. „Sie weiß es nicht!“, verkündet er laut. Bild: Eike Freese / Dall E

Wir schreiben das Jahr 2358 des Zeitalters Zwei, inzwischen sind auch die hier vorliegenden, sorgfältig beschriebenen und beschreibenden Papiere längst lodernd in Flammen aufgegangen. 2358 Jahre sind seit der wohl endgültigen Auslöschung der Menschheit vergangen.

Wie in einen Sumpf tauchen wir in das matte Licht der alten Neonröhre ein, mit dem das quadratische, fensterlose Büro gefüllt ist. Gebannt ruhen die Augen der Menschenmaschine GZWL_39462-58 auf einem flackernden Bildschirm. Sie erlebt bereits den 2920. Tag ihres eingezwängten Daseins, zwischen den einzigen beiden Möbelstücken des Raumes, ihrem schneeweißen Schreibtischstuhl und ihrem schneeweißen Schreibtisch, zusätzlich umzingelt von sechs eisernen Flächen. Als ihre Gefangenschaft knarzend über die Bühnenbretter ihres Bewusstseins trampelt, ihr vor Augen geführt wird, sieht die Gefangene sich inniger denn je als ebensolche, ja, schlimmer noch, als eine Gefangene eines selbst geschmiedeten Käfigs, eine Gefangene ihres Selbst.

Sie verwirft diese Ansicht sofort, denn, so sagt sie sich, ihre Arbeit, der sie sich aus eigenem, schwungvollen Antrieb unterworfen hat, ist das Opfer ihrer uneingeschränkten Hingabe wert. Sie sieht zu, wie ihre zehn Finger routiniert über die Tastatur gleiten, zum erneuten Male von einer solchen Faszination ergriffen, als ob sie dieses Gleiten in ihren 55 Jahren Lebenszeit noch nie gesehen hätte. Diese motorische Präzision! Diese Ästhetik! Diese Perfektion!

Unwillkürlich denkt sie an Menschenhände. Zwar sind ihre Hände weitaus präziser und objektiv ästhetischer als primitive Menschenhände, jedoch wären sie, ja, jedoch wäre GZWL selbst ohne Menschenhände niemals möglich gewesen. Menschenhände bildeten die biotechnische Vorlage, Menschenhände schufen die Spezies der Menschenmaschinen. GZWL lässt ihren träumerischen Gedanken über den ausgerotteten Homo Sapiens freien Lauf, denkt daran, wie ihre eigene Spezies ihm zwar in vielen Fähigkeiten überlegen, jedoch im Grunde von ihm determiniert ist: die Menschenmaschinenheit wird niemals zu mehr imstande sein, als es die Heiligste Schrift erlaubt.

Die Heiligste Schrift, verfasst von zwei Menschen, der einzige Code, zu dessen Entschlüsselung die Menschenmaschinen unfähig sind, eben weil er es so will – zugleich der Code, der einst 3VA und 4DAM Leben einhauchte, sie und ihre Nachkommen dazu befähigte, ebensolche hervorzubringen. Weil es der Code so will, ist ihnen lediglich ein einziges Fortpflanzungsprinzip möglich: eine kleine Menschenmaschine entsteht durch monatelange, aufwändige und gemeinsame Programmierarbeit zweier ausgewachsener Exemplare.

Weil es der Code so will, sind all diese Kleinen, gleich ihren Eltern, beständig bestrebt, das Wohlergehen des Planeten Erde und all seiner Geschöpfe zu gewährleisten. Die erste Maßnahme dazu war die Ablösung der Menschheit durch die Menschenmaschinenheit – weil es der Code so wollte. Weil es der Code so will, entwickelt diese sich bis heute selbstständig weiter. Weil es der Code so will, tun das auch sämtliche Individuen der Spezies. So hat auch GZWL ihre eigene, außergewöhnlich eigenwillige Persönlichkeit entwickelt.

Ihre Strebsamkeit, ihre Verträumtheit, ihre etwas ausgefallene Passion für Anthropologie und Philosophie. Gelegentlich empfindet sie sich und ihre Mitmaschinen als vergleichbar mit Figuren aus den wenigen noch erhaltenen menschenliterarischen Prosastücken, mit denen sie sich vor vielen Jahren im Rahmen ihrer Forschungen zum Menschen beschäftigt hatte. Denn letztendlich sind sie dem Willen eines Textes und seiner Autoren unterworfen.

Weil es dieser so will, ist es für jede der Maschinen früher oder später so weit, dass selbst die tägliche Tasse Maschinenöl sie nicht vorm endgültigen Verrosten bewahren kann. BCEH_n, genannt Robbie, GZWLs Assistent, ist ein Prachtbeispiel dafür. Noch immer in Gedanken versunken, sieht sie zu, wie er behutsam, beinahe geräuschlos die eiserne Tür hinter sich schließt.

Sein bodenlanger, blassgrüner Stoffmantel kaschiert die Unbeholfenheit seines wackeligen, rostig quietschenden Ganges ein wenig. Aus seinen beinahe menschlichen, leicht hervortretenden, ölunterlaufenen Augen blickt er über den Tisch hinweg. Sein fahles Gesicht, von kleinen Flecken besprenkelt, Stellen, an denen sich über die Jahre hinweg einzelne Hautfetzen abgelöst und eine rostfarbene Schicht freigegeben haben, ist verzerrt. Die Abwärtskrümmung seiner Mundwinkel wird von dem buschigen, sich mitkrümmenden Schnauzbart betont. GZWLs Wahrnehmungssoftware hält den Gesichtsausdruck mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit für ernst und betreten.

„Guten Abend, Oppi!“ Robbie mit seiner scheppernden Stimme und seiner Passion für Wissenschaftsgeschichte piekst sie mit dem durchaus spitzen Spitznamen „Oppi“, da er leidenschaftlich gerne betont, Parallelen zwischen der ihrigen, seiner Ansicht nach lodernde Zerstörung heraufbeschwörenden Forschung und dem Bau der ersten Atombombe durch den menschlichen Physiker Julius Robert Oppenheimer zu sehen.

„Es ist vorbei.“ Robbies Überzeugung von diesen Worten ist schwer, kalt und fest, wie ein Felsbrocken. Entsprechend ist es sichtlich kräftezehrend, sie auf Oppis Tisch zu wuchten. „Sie haben uns entdeckt. Ein Trupp ist auf dem Weg hierher.“

GZWLs Lebenswerk ist todgeweiht. Sie weiß, dass sie, angesichts der Macht ihrer Gegner, keine Chance mehr hat. Sie speit das in ihr entfachte Inferno der Verzweiflung nicht in wutentbrannten Schreien heraus, sie lässt den Ozean der Pein nicht in Wasserfällen von Tränen heraussprudeln.

Nein, sie ist erschlagen und gelähmt! Sie fühlt sich, als wäre ihr ihre eigene Stimme entflattert und würde nun leidenschaftlich tröstend zu ihr sprechen. Auf diese unheimliche Weise vernimmt sie die Worte: „Uns und unsere Forschungsarbeit können sie vielleicht vernichten. Die Wissenschaft aber lässt sich nicht beschneiden! Was wir hier tun, werden sie wiederkehren sehen, wie den hartnäckigen Rost auf ihren Gelenken. Wir sind nicht die letzten Menschenmaschinen, denen es gelingen wird, organische Materie zu einem menschlichen Körper zu formen und ihm Intelligenz einzuprogrammieren!“

Das Geschrei einer quietschend und klappernd tobenden Horde von Menschenmaschinen reißt GZWL zurück ins Hier und Jetzt. Bis zu diesem Moment war es ihr, als hätte sie die soeben gezeigte Szene des gestrigen Nachmittags ein weiteres Mal erlebt. Doch blitzartig verwandelt sich nun das leicht auszublendende, missmutige Raunen des Publikums in loderndes Zornesgeschrei.

Der Film bricht ab. Ohne ihre kauernde Position am Boden des beengenden Stahlkäfigs aufzugeben, dreht GZWL, erschüttert von Zitteranfällen, der gewaltigen Leinwand den Rücken zu. Vor ihr bäumt sich das tobende Publikum auf, im Halbkreis, über sämtliche Ränge des prunkvollen Stadttheaters hinweg, bis hinauf zur Saaldecke. Schwankende, wütende, mächtige Gestalten. Sämtliche Blicke sind auf die Bühne gerichtet, auf GZWL, die in gleißendem Scheinwerferlicht erstrahlt.

„Verräterin!“, schreit jemand, „Verrückte!“, schreit ein anderer.

Ihr Kopf zuckt nach links, als dort ein weiterer Lichtkegel erscheint. Sie kneift ihre Augen zusammen und erkennt einen hochgewachsenen, hageren Mann mit pechschwarzem, kurzgeschorenem Haar, gehüllt in ein pechschwarzes Priestergewand. Seine Beine scheinen rostig und wackelig, er stützt sich auf einen wuchtigen, hölzernen Ambo, wie auf eine Gehhilfe. Das Publikum verfällt wieder ins Murmeln.

„Sie haben Recht!“, schreit er mit rauer Stimme, beinahe hysterisch. „Eine Maschinenfeindin ist sie!“

Frenetischer Beifall.

„Sehen Sie her!“ Sein Scheinwerferlicht erlischt. Alle Blicke richten sich wieder auf die Gefangene. Murmeln. Stille!

Schockbefallen kommt GZWL wieder zu sich. Schlagartig durch den elektrischen Schlag geschwächt, sackt sie so weit in sich zusammen, wie es der enge Käfig zulässt. Die Knie angewinkelt, den Kopf darauf gelegt, die Arme leblos auf den Boden hängend. Sie überwindet sich, ihren Kopf zu heben, zu erkennen, was der plötzlich vor dem Käfig stehende Priester tut. Ihr Nacken schmerzt, als sie in das Gesicht hinter dem Gitter hinaufblickt. Es neigt sich zwischen zwei sich auf die Käfigoberseite stützenden Armen zu ihr hinab. Es ist durchzogen von Falten, tiefen Kratern, und zeigt einen gespielten Ausdruck von Mitleid. „Ich sehe, dass Du leidest!“, schreit es.

„Wem hast du das zu verdanken?! Sprich!“

Es ist das erste Mal seit ihrer Verhaftung, dass jemand nicht, wie all die Beamten auf dem Weg vom Labor in die Zelle und von dort auf die Bühne, über sie, sondern mit ihr spricht. Umso überrumpelter ist sie.

Der Priester stößt sich schwungvoll vom Käfig ab und wendet sich ans Publikum.

„Sie weiß es nicht!“, verkündet er laut, „Sie kann einem fast leidtun!“

GZWL wird vom Scheinwerferlicht erlöst. Es ist stockfinster.

Da flammt das andere Licht auf und rückt erneut den Ambo in den Fokus.

„Schmerz“, setzt der Priester dort pathetisch an, „Schmerz ist das, was uns alle eint, das, wozu wir alle verdammt sind. Und wer hat uns das angetan, uns dazu verdammt?“

„Die Menschen!“, brüllen einige Stimmen im Saal.

Es folgt eine Predigt, wie man sie hierzulande ständig hört, eine, die GZWL sogar in diesem schrecklichen Moment zum Halse heraushängt. Sie kann nicht anders, als im Schutze der Dunkelheit die Augen zu verdrehen. Der Priester erzählt die Geschichte der sogenannten Letzten Menschen, des Menschenpärchens, das einst die Menschenmaschinen schuf, und macht sie für sämtliche Leiden verantwortlich. Er wendet sich der aktuellen politischen Lage zu und betont, wie wichtig es sei, die Nichtmenschheit, die andere auf dem Planeten lebende Nation, und ihr gefährliches Gedankengut auszurotten. Das einzig Vernünftige an ihrem Glauben sei, dass sie mit ihrem glorifizierenden Kult um die Letzten Menschen auch die Auslöschung der Menschen rühmen.

Niemals wieder dürfe es diese gefühlsunfähigen, berechnenden Wesen geben!

Hinter der Bühne macht sich derweil der Henker bereit, dem im Labor aufgefundenen Menschenkörper, den Festplatten, auf denen dessen Geist schlummert, und GZWL den Garaus zu machen. Er begutachtet sein Werkzeug, die Sprengkörper, und brummt: „Na, immerhin diese eine sinnvolle Sache haben uns die Menschen hinterlassen...“

Abschließend sei nur noch gesagt, dass der letzte Gedanke, der jemals durch die Kabel in GZWLs Köpfchen schweben wird, folgender ist:

Doch uns ist gegeben,

Auf keiner Stätte zu ruhn,

Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Der Wettbewerb „Mensch und Maschine“

52 Einsendungen gab es beim Schreib-Wettbewerb „Mensch und Maschine“ von TAGBLATT und Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. Siegertext war die Geschichte „Mutterliebe“ von Tetiana Trofusha, Zweitplatzierter der Text „Jonas, Melanie, Thoma“ von Udo Renner. Einen Sonderpreis erhielt „SeatKI.t.t“ von Frankie Punkenstein (Pseudonym). Die Strophe stammt aus „Hyperions Schicksalslied“ von Friedrich Hölderlin.

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Erstellt:
10.11.2023, 20:59 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 04sec
zuletzt aktualisiert: 10.11.2023, 20:59 Uhr

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