Wettbewerb „Mensch und Maschine“

Zweitplatzierter-Text des KI-Kurzgeschichten-Wettbewerbs: „Jonas, Melanie, Thomas“

Dieser Text des Tübingers Udo Renner ist der Zweitplatzierte des Wettbewerbs „Mensch und Maschine“, den das TAGBLATT gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik veranstaltet hat.

10.11.2023

Von Udo Renner

„Die Ärmchen des Babys legen sich verschränkt auf den Bauch. Der Körper wird so schmaler, das spart Platz bei der Lagerung.“ Bild: Eike Freese / Dall E

„Die Ärmchen des Babys legen sich verschränkt auf den Bauch. Der Körper wird so schmaler, das spart Platz bei der Lagerung.“ Bild: Eike Freese / Dall E

Jonas öffnet seine Augen. Eine Hand hatte sanft sein kleines Füßchen umschlossen. Wir müssen los, sagt Melanie Blohm leise. Jonas sieht sie mit seinen großen, strahlend blauen Augen an. Ein letztes Mal wollte sie das weiche Füßchen berühren, die Wärme der Haut spüren. Jetzt, kurz vor der Übergabe, macht sich mehr Wehmut breit als Blohm gedacht hatte. Jonas wurde erst vor wenigen Stunden gebracht.

Blohms Gemeinde war als eine von 128 im Menschengebiet bestimmt worden, ein Kind an die Maschinen zu überreichen, um die gegenseitige Verständigung zu fördern. Als Blohm das Füßchen loslässt huscht ein verschmitztes Lächeln über Jonas Gesicht. Er brabbelt selbstvergnügt vor sich hin. Blohm, Erste Bürgerrätin von Eggenhagen, hatte dieses kleine verletzliche Wesen vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen. Nun soll sie es einer Maschine aushändigen. Eine Träne läuft über Blohms Wange. Sie umfasst 0,26 Milliliter Tränenflüssigkeit. Jonas’ Tränen sind 0,13 Milliliter groß.

Ein bisschen mehr Pomp hätte ich mir schon erwartet, denkt Thomas Müller. Er steht etwas verloren im schmucklosen Foyer des Bürgerinnenzentrums von Eggenhagen. Die Anfahrt ins Menschengebiet war länger als geplant, es war kaum noch Zeit ins Hotel einzuchecken und er ist genervt. Eigentlich ist er gar nicht zuständig für die Übernahme des Verständigungskindes, sondern Thomas Müller. Eggenhagen gehört zu LA23-77 und zuständig für solche Anlässe ist damit Thomas Müller von LA23-77 und nicht er von LA23-78. Migräne-Attacke, genau in der Stunde der Übergabe, hatte Thomas Müller behauptet, seine Predictive Health Unit habe es vorhergesagt, also musste Müller einspringen und so steht jetzt er im Foyer, und nicht Müller. Die Erste Bürgerrätin komme sofort, sagt ein Mensch, der eine große Vase mit Kornblumen an der Stelle platziert an der Jonas gleich übergeben werden soll.

Jonas eignet sich zweifelsohne bestens zu Verständigungszwecken. Ein so außergewöhnlich umgängliches, fröhliches und zugewandtes Baby. Ein guter erster Schritt, denkt Blohm. Aber es damit auf sich bewenden lassen? Das Kind übergeben und fertig? Es geht doch um viel mehr. Ich, das Baby, wir sind Menschen! Menschen! Einzigartige Geschöpfe. Nur wenn die Maschinen das verstehen, werden wir uns näherkommen. Sie nimmt Jonas auf den Arm und macht sich mit großen Schritten auf den Weg ins Foyer.

LA23-77. Irgendwas war mit LA23-77. Der Gedanke schwirrt Müller schon seit der Herfahrt durch den Kopf. Erst jetzt nimmt er wahr, dass die Bürgerrätin samt Baby bereits vor ihm steht. Guten Tag, schön dass Sie den langen Weg auf sich genommen haben, sagt Blohm und redet weiter, ohne lange auf eine Antwort zu warten. Vielleicht können Sie das alles nicht wirklich verstehen, aber bevor Sie mit Jonas wieder gehen, was ich Ihnen sagen will ist, wir sind Menschen. Das wissen Sie, aber wissen Sie, was wir wirklich sind, was uns wirklich ausmacht? Wir können mitfühlend sein, selbstlos und bedingungslos kooperativ, wir verstehen, was Würde bedeutet und Demut, wir möchten den tieferen Sinn des Daseins erfassen und wir können einfach nur im Augenblick leben und genießen, ohne Ziel, Zweck und Nutzen. Wir wollen einfach nur unser Leben leben, die meisten von uns sind friedfertig. Thomas Müller sagt nichts. Ein paar lange Sekunden vergehen. Sie hält ihm das Kind hin. Er nimmt es auf seinen Arm. Melanie Blohm dreht sich um und geht. Jetzt weiß ich es wieder, denkt Thomas Müller.

In LA23-77 wurde ausschließlich die Theta-IV-Version eingesetzt. Seine Theta-IV-Version. Das war schon einige Jahre her. Als Leiter einer Arbeitsgruppe hatte er diese Version maßgeblich mitentwickelt. Keine Frage, Melanie Blohm musste ein Exemplar aus dieser Serie sein. Müllers schlechte Laune hellt sich auf. Bis zur Ersten Bürgerrätin hat sie es gebracht. Und so ein leidenschaftliches Plädoyer für das Menschsein, den Menschen, seine Friedfertigkeit. Da kann die Programmierung nicht so schlecht gewesen sein, findet er und ist fast ein wenig stolz auf sich. Eins der Features, das die Arbeitsgruppe damals entwickelte, war eine neuartige Skalierung von Traurigsein. Bis dahin wurde dies über die Anzahl der Tränen gesteuert. Über die Menge der Tränenflüssigkeit in den einzelnen Tränen ließ sich Traurigsein sehr viel exakter regulieren, so ein Ergebnis der Arbeitsgruppe. Heute wurde dieser Mechanismus standardmäßig in allen Modellen verbaut. Müller erinnert sich auch an die angenehme Zusammenarbeit in dem internationalen Team, an die beiden Pierre Dubios’ aus Frankreich und an Maria Bruno, Maria Bruno und Maria Bruno aus Italien.

Müller, immer noch beeindruckt von Blohms Auftritt, geht ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf: Wäre die Theta-IV-Version im ganzen Land eingesetzt worden, wäre es nicht so weit gekommen. So weit, dass es jetzt solcher Aktionen wie der mit den Verständigungskindern bedurfte. Offenbar entwickelt sich sein System nicht nur prospektiv evolvierend, sondern auch retrospektiv korrigierend. Ein selbstverlernendes System! Müller ist begeistert. Und wenn Blohm eine Theta-IV-Version ist, dann ist es das Kind auch.

Vielleicht ließen sich diese besonderen Eigenschaften noch gezielter aktivieren, vielleicht sogar in die anderen Serien implementieren. Sicher keine einfache Sache und ein langer Weg nachdem die alten Versionen mit den mitunter verheerenden Auswirkungen so lange gelaufen waren. Aber machbar, keine Frage. Er könnte beantragen, das Kind als Prototyp entsprechend weiterzuentwickeln. Später. Jetzt steht zuerst die Deaktivierung an. Alle Verständigungskinder werden deaktiviert. So haben es die Maschinen bestimmt. Seiner Euphorie tut das keinen Abbruch. Eine spätere Aktivierung ist zu jeder Zeit möglich.

Thomas Müller macht sich mit dem Baby auf dem Arm auf den Weg ins Hotel. Die Dockingstation hat er schon vorbereitet. Das Gerät erinnert an eine Körperwaage für Menschen. Er legt das friedlich lächelnde kleine Bündel darauf ab. Die Deaktivierung startet automatisch. Zuerst werden alle Daten in den Sky hochgeladen. Die Bewegungen des Körpers erlahmen, die Gesichtszüge erstarren. Die Ärmchen des Babys legen sich verschränkt auf den Bauch. Der Körper wird so schmaler, das spart Platz bei der Lagerung. Die Haut kühlt schnell ab, etwa so wie bei einem Stück Fleisch, das ins Gefrierfach gelegt wurde. Das strahlende Blau in den Pupillen weicht einem hellen Grau. Jonas schließt seine Augen.

Der Wettbewerb „Mensch und Maschine“

52 Einsendungen gab es beim Schreib-Wettbewerb „Mensch und Maschine“ von TAGBLATT und Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. Siegertext war die Geschichte „Mutterliebe“ von Tetiana Trofusha, Drittplatzierter der Text „Zeitalter Zwei“ von Benjamin Voßler. Einen

Sonderpreis erhielt die Geschichte „SeatKI.t.t“ von Frankie Punkenstein (Pseudonym).

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Erstellt:
10.11.2023, 20:58 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 20sec
zuletzt aktualisiert: 10.11.2023, 20:58 Uhr

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