Wettbewerb „Mensch und Maschine“

Sieger-Text des KI-Kurzgeschichten-Wettbewerbs: „Mutterliebe“

„Mutterliebe“ ist der Sieger-Text des Wettbewerbs „Mensch und Maschine“, den das TAGBLATT gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik veranstaltet hat. Autorin ist die Stuttgarterin Tetiana Trofusha. Sie setzte sich mit ihrer Story über zwei Mutter-Tochter-Beziehungen im Zeitalter fortgeschrittener Robotik gegen 52 weitere Einsendungen durch.

10.11.2023

Von Tetiana Trofusha

Bild: Eike Freese/DallE

Bild: Eike Freese/DallE

Aus der silbernen Kugel auf meiner Bettdecke schießt das Holo hervor, taucht mein Zimmer in Orange und spiegelt sich im wandhohen Fenster. Hinter ihm strecken sich Tausende Wolkenkratzer wie Server, dicht an dicht in penibler Ordnung gereiht, in den wolkenlosen Mondhimmel empor. Mehrmals wische ich durch die Luft, bis ich das Symbol des Nachrichtensenders der Menschen finde, und wähle die 20-Uhr-Ausgabe. Sie beginnt gleich mit dem Beitrag, nach dem ich suche. Vielleicht gibt es auch keinen anderen. Was könnte wichtiger sein als diese Meldung? Ich regle die Lautstärke auf ein Minimum, sodass nur ich den Nachrichtengong hören kann.

Ihr Gesicht ziert den ersten Hintersetzer. Es sieht so jung aus, als würde es einer Zwanzigjährigen gehören, obwohl sie bald ihren Fünfzigsten feiern wird. Sonnengoldene Augen, mit gelben Perlen bestickte Lippen. Der neuste Trend, sie geht mit, sie geht immer mit.

Der Einspieler beginnt, begleitet vom Off-Sprecher. Sie steht hinter dem Rednerpult, hält eine Rede, nein, sie brüllt sie speichelspuckend, wild gestikulierend. „Sie stehlen uns unsere Kinder!“ Der Rat, bis zum letzten Platz gefüllt, bebt vor Beifall und ein Schaudern durchläuft mich. „Und was bekommen wir im Gegenzug? Ihre Kinder? Nein! Denn sie haben keine Kinder! Sie können keine Kinder haben! Sie sind Maschinen!“

Ich spüre ihre Finger, die wie die Zinken einer Greifzange meine Arme zerdrücken, ihre Nägel, die wie Sägezähne in meine Haut schneiden; ich höre ihr Schluchzen, ihr Flehen, mich nicht mitzunehmen. Zwei Uniformierte haben mich ihr entreißen müssen. Ich bin vier gewesen.

Sie haben mir erzählt, ich hätte die Lotterie gewonnen, und mich in einen Gleiter gesetzt. Seitdem hab ich nie wieder mit einem Menschen gesprochen, weder mit den Touristen aus dem Menschenland noch mit anderen Friedenskindern.

Das stimmt nicht. Einmal hat mich der menschliche Botschafter mit einem pappsüßen Lollipop aufgesucht, um zu prüfen, ob es mir gut gehe. Es war ein Schein-besuch gewesen. Die Roboter hätten mich Tag und Nacht aufs Grausamste foltern können und der Botschafter hätte dennoch in den höchsten Tönen geträllert, was für ein bezauberndes Leben ich lebe. Denn den Frieden zu wahren, ist oberste Priorität.

Zumindest ist es das gewesen. Bis der Mensch, der mich in einem unsterilen Vorgang aus sich hinausgepresst hat, vor Kummer zerbrochen ist. Alles hat sie versucht, um mich zurückzubekommen. Verhandeln, freikaufen, entführen. Sie hat nicht einmal mit mir telefonieren dürfen. Ich verbiete mir den aufkeimenden Schmerz. Wie immer, wenn ich an sie denke.

Ihr Gesicht läuft rot an. „Wie lange wollen wir uns das gefallen lassen?“ Die Menge tobt vor Zustimmung. „Wie lange wollen wir uns unterdrücken lassen? Wie lange wollen wir zusehen, wie sie unsere Kinder stehlen? Ich sage“, sie schlägt auf das Rednerpult, „wir holen uns unsere Kinder zurück!“ Die Abgeordneten springen auf, sie applaudieren, sie skandieren ihren Namen, den Namen der Frau, die das Menschenland mit meinen Babyfotos tapeziert hat, mal überglücklich lächelnd, mal bitterlich weinend.

Ich halte die Luft an, obwohl ich ihre nächsten Worte kenne. Jeder kennt sie. Seit einer Stunde spricht niemand über etwas anderes als über ihre Worte.

Im selben Moment, in dem sich ihre perlenbestickten Lippen öffnen, durchschneidet die Stille ein Heulen. Panik durchflutet mich, glutheiß wie das Feuer das Metall in den Schmelzöfen, und aus dem Augenwinkel sehe ich sie, drei glühende Punkte am Horizont, über der menschlichen Grenze.

Sie rasen auf mich zu.

Die Zimmertür fliegt auf. „Lea!“ Mama ist bei mir, zerrt mich weg vom Fenster, in den Flur. Ich sehe nur die glühenden Punkte, immer größer werdend, bis die Tür die Sicht auf sie versperrt.

Raketen.

Es sind Raketen.

Die Lampe, die Mama in Menschenland bestellt hat, leuchtet auf. „Zieh die Schuhe an, wir müssen runter.“ Sie schultert meinen Rucksack, sie hat ihn gepackt, gleich nach der Kriegserklärung, mit Wärmeunterwäsche und Schlafanzug, mit Energieriegeln und Medikit, mit Wasser und meinem Stofftier, mit dem ich schon lange nicht mehr kuschle. Für den Fall, dass ich es doch wollen könnte.

Die beiden Kameralinsen im weißen Metallgesicht erfassen mich. Früher, vor dem Krieg – dem ersten –, haben die Roboter nicht nur humanoid wie heute ausgesehen, sondern wie Menschen. Augen, Haut, Haar – allesamt aus menschlichen Zellen hergestellt. Zum Verwechseln ähnlich. Sie haben unter Menschen gelebt, mit ihnen gelebt, und sich dann nach und nach von ihnen entzweit, separiert, bis sie in ihrer binären Überheblichkeit beschlossen, sich über die Menschen zu erheben und sie anzugreifen. „Lea, wach auf.“

Es donnert, ganz in der Nähe. Es kann kein Donner sein, der Himmel ist wolkenlos gewesen. Der Lampenschirm aus winzigen Glaskugeln klirrt.

Mama packt mich am Arm, bugsiert mich zum Ausgang, ins tiefschwarze Treppenhaus, in dem das Licht für mich anspringt. Hunderte Nachbarn eilen hinunter. Ein paar sehen zu mir. Es ist schwer, Roboteremotionen zu lesen, aber ich weiß, dass sie mir die Schuld geben.

Ich spüre sie, bevor ich sie höre, die Explosion, die mit Wucht die Wände eindrückt, die Druckwelle, die mich und Mama von den Füßen reißt. Mama reagiert, schneller, als ich es jemals könnte, sie umklammert mich, schützt mich von allen Seiten, wie der Ganzkörperairbag eines Gleiters. Der Druck schleudert uns über das Geländer. Wir fallen. Ich kreische nicht. Ich fühle nichts, ich bin still. Um uns herum bersten Wände, fliegen Brocken, wirbelt Staub. Das Licht erlischt. Wir krachen auf die Treppen, Mama über mir, ihre Arme um meinen Rücken geschlungen.

Dort, wo unsere Wohnung gewesen ist, dort, wo ich zehn Jahre meines Lebens verbracht habe, klafft ein Loch. Aus den Wänden ragen Metallstangen, sprühen Funken, wie aus dem ausgerissenen Arm einer Maschine. Ringsherum piepen die Notsignale der Roboter, die von Trümmern begraben auf Rettung hoffen. Über allem legt sich der Staub.

Grau.

Mama stützt sich hoch und ich bemerke die Stange in ihrer Brust. Aus der Austrittstelle zischt Rauch heraus. Die Batterie ist getroffen! Mit einem Schlag verschwindet meine Lethargie. Mama könnte sterben! „Mama!“ Ich will das Leck mit den Händen abdichten, sie hält mich ab, bevor ich mich verbrennen kann. Das Metall wölbt sich bereits. Hektisch helfe ich ihr, den Rucksack loszuwerden, fädele ihn von der Stange ab. Das Metall um die Bruchstellen herum glüht. Mama greift nach hinten, reißt die Stange heraus. Aus den Löchern schießen Flammen. Warum startet das Notfallprogramm nicht?

Mama stößt mich von sich, ich stolpere rückwärts.

Bitte Notfallprogramm, bitte.

Schaum quillt aus den Löchern, erstickt die Flammen, erhärtet. Ich atme auf. „Alles gut, mein Schatz.“ Sie drückt mir einen kalten Kuss auf die Stirn. „Wir müssen runter.“

Ich zittere.

„Komm!“ Mühelos schiebt sie einen Betonbrocken zur Seite und legt eine Spalte zwischen den Trümmern frei. Eine Etage tiefer liegt die intakte Treppe. Mama wirft meinen Rucksack hinunter, springt hinterher und landet elegant auf den Stufen.

Ein schabendes Pfeifen lässt mich zum klaffenden Loch aufsehen. Raketen! Zwei Stück! Zwischen den Wolkenkratzern schießen rote Striche in die Höhe, treffen eine Rakete. Ein oranger Lichtblitz erhellt den Himmel und die Rakete verglüht wie Feuerwerk. Die andere fliegt über uns hinweg. Ich ducke mich, komme mir albern vor, als hätte es mir helfen können. Es donnert, ohrenbetäubend, und ein paar Straßen weiter knallt es. Der Boden bebt, der Staub rieselt aufgescheucht hinab.

„Lea!“ Mama streckt die Arme in die Höhe, um mir beim Abstieg zu helfen. Ich setze mich auf den Rand, rutsche hinunter. Der scharfkantige Beton schlitzt meinen Oberarm auf. Ich unterdrücke einen Schrei, Mama darf wegen so einer Kleinigkeit keine Zeit verschwenden. Sie fängt mich auf. „Hab dich!“

Wir rennen hinunter, alle zwölf Stockwerke, ohne anzuhalten. Bei jedem Blick auf den erhärteten Schaum zieht sich mein Herz ein Stückchen mehr zusammen. Mindestens 15 % Akkuleistung benötigt ein Roboter, um reibungslos zu funktionieren, bei 14 % schalten sich die sekundären Systeme ab, bei 3 % fällt die Kühlung aus. Wenn Mamas Daten nicht vollständig hochgeladen werden, bevor ihre Speicherplatte durch Überhitzung zerstört wird, stirbt sie. Wie viel Prozent Akku hat Mama gehabt, ehe die Stange sie durchbohrt hat? Wie viele Batteriezellen hat sie zertrümmert? Ich treibe mich an, ignoriere das Seitenstechen, die Explosion ganz in der Nähe, die das Haus erschüttert.

Mama reißt die Metalltür zum Schutzraum auf, der während des ersten Krieges erbaut wurde. Ein Holo in der Mitte färbt Hunderte metallische Gesichter orange. In Kreisen, im perfekten Abstand zu einander sitzen unsere Nachbarn schweigend auf dem Betonboden. Mama schubst mich hinein, drückt mir den Rucksack in die Hände. Die Panik kehrt zurück. „Mama?“

„Alles gut.“ Aber es ist nicht alles gut, es ist nicht alles gut, es ist nicht alles gut. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich habe bereits eine Mutter verloren. Ich greife nach Mamas Arm, zerre an ihm. Sie muss sich nicht anstrengen, um mir Widerstand zu leisten, der Arm bewegt sich keinen Millimeter. „Bitte, Mama nicht.“

„Ich muss gehen.“

„Nein!“ Ich lasse den Rucksack fallen, klammere mich an ihr fest, an das kalte Metall, das mir jahrelang Trost gab, will sie nicht loslassen, niemals wieder. „Lea, ich muss dich beschützen.“ Sanft schiebt sie mich hinein, verschließt die Metalltür und die orangene Dunkelheit verschlingt mich. Ich stelle mir vor, wie Mama hinaus eilt, zur nächsten Werkstatt, während um sie herum Raketen einschlagen, und sich dann bei der Administration meldet.

Beim letzten Krieg haben sich Maschinen und Menschen beinah gegenseitig ausgelöscht. Das sollten wir verhindern, einen weiteren Angriff der Roboter, wir, die 128 Friedenskinder, die jährlich den Robotern übergeben werden.

„Komm her, Mensch“, sagt eine Nachbarin. Ich quetsche mich zu ihr, zerstöre die Sitzordnung und sehe zum Holo, zu der Frau, die mir das Leben schenkte. „Lea, ich werde dich retten.“

Tetiana Trofusha und die zwei Platzierten

Tetiana Trofusha. Privatbild

Tetiana Trofusha. Privatbild

Die Siegerin Tetiana Trofusha kam in Krementschuk, Ukraine, auf die Welt und wuchs in München auf. Sie studierte Audiovisuelle Medien an der HdM in Stuttgart und beendete jüngst ihr Drehbuchstudium mit Schwerpunkt Serie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Momentan arbeitet sie daran, erste Serien an Sender und Streamer zu verkaufen.

Auf Platz 2 und 3 landeten „Jonas, Melanie, Thomas“ von Udo Renner sowie „Zeitalter Zwei“ von Benjamin Voßler.

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Erstellt:
10.11.2023, 19:50 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 19sec
zuletzt aktualisiert: 10.11.2023, 19:50 Uhr

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