Wettbewerb „Mensch und Maschine“

Sonderpreis des KI-Kurzgeschichten-Wettbewerbs: „Seat KI.t.t“

Dieser Text des Tübingers Frankie Punkenstein (Pseudonym) hat den Sonderpreis bekommen beim Wettbewerb „Mensch und Maschine“, den das TAGBLATT gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik veranstaltet hat.

10.11.2023

Von Frankie Punktenstein (Pseudonym)

„Bitte entfernen sie sich nicht, während der Ladevorgang läuft. Ihr Betriebssystem könnte geschädigt werden.“ BIld: Eike Freese / Dall E

„Bitte entfernen sie sich nicht, während der Ladevorgang läuft. Ihr Betriebssystem könnte geschädigt werden.“ BIld: Eike Freese / Dall E

„Vielen Dank, dass sie auf mir Platz genommen haben!“

„Verflucht.“ Walter sprang auf und drehte sich um. Warum nur hatte er nicht aufgepasst? War er denn blind gewesen?

Müde von der Arbeit und einer weiteren Nacht, in der er schlecht geschlafen hatte, war er wie oft am Abend in den alten botanischen Garten spaziert, um dort, zwischen den vertrauten Bäumen, ein wenig Ruhe zu suchen.

Doch die Stadtverwaltung hatte die Holzbank, auf der er schon zu Studentenzeiten gesessen und philosophische Bücher gelesen hatte, wie schon manch andere Bänke der Stadt durch eine dieser neuartigen, mit KI gefütterten Bänke ersetzt.

Diese hier war kaum von einer richtigen Bank zu unterscheiden mit ihren künstlich holzgemusterten Dielen und den Plastikfüßen in Metalloptik; nur das diskrete Display, das nun munter zu leuchten begonnen hatte, zeugte von verborgenen Funktionen. Und natürlich die Stimme, die aus einem unsichtbaren Lautsprecher tönte.

„Bitte entfernen Sie sich nicht; während der Ladevorgang läuft. Ihr Betriebssystem könnte irreparabel geschädigt werden.“ Walter, der einige Schritte zurückgewichen war, blieb stehen und griff panisch in seine Jackentasche. Tatsächlich, auf seinem Smartphone wurde eine App namens „SeatKI.t.t“ installiert, der Ladebalken war schon bei 65 %.

„Was soll das? Das ist unzulässig, ich will diese bescheuerte App nicht.“ Ein paar Eichhörnchen schauten neugierig von Baum, denn Walter wurde nun richtig laut.

„Aber Sie haben der Installation doch zugestimmt; als Sie auf mir Platz genommen haben“, antwortete die KI der Bank in ruhigem Ton. „Sicher hatten Sie doch die Nutzungsbedingungen der Bank gelesen, bevor Sie Platz genommen haben.“ Verwirrt trat Walter näher und sah das unauffällige und recht kleinformatige Metallplättchen, das ganz am Rand der Lehne eingelassen war. Hier stand tatsächlich, dass der Nutzer der Bank der Installation der App zustimmte.

„Eine gute Entscheidung übrigens“, stellte die sprechende Parkbank fest, und es hörte sich fast so an, als ob sie den Klang von Stolz nachahmte. „,SeatKI.t.t‘ ist die innovativste Fitness- und Gesundheitsapp überhaupt. Sie wurde in unzähligen Zyklen von der ihr eigenen KI entwickelt und optimiert sich ständig selbst. Sie ist so eigenständig, dass sich jede App auf jedem Smartphone ständig selbst individuell und nutzerabhängig personifiziert upzudaten vermag. Und das mehrmals am Tag.“

Während die Bank dies gesagt hatte, war die Stimme der KI gekippt und hatte eine weibliche Tonlage angenommen; sie hatte plötzlich eine Stimme, die Walter ziemlich bekannt vorkam.

„Versuchst du – Dingsbums –, etwa mit der Stimme meiner Freundin zu sprechen?“

„Deiner Ex-Freundin, Walter“, verbesserte ihn die KI. „Ich habe ihre Stimme auf deiner Mailbox gefunden, und wie ich am Verlauf deiner Suchen in den Social Media sehe, hängst du noch immer sehr an ihr. Freut es dich da nicht, ihre Stimme zu hören?“

„Nein, ganz und gar nicht, das ist bodenlos. Hör sofort damit auf, mit dieser App auf meinem Handy zu spionieren!“

„Hm“ – die KI schien einige Denkzyklen zu durchlaufen und sprach nun wieder mit einer männlich neutralen Stimme: „,SeatKI.t.t‘ ist ja eigentlich eine Fitnessapp, aber sie kann Dir auch bei psychologischen Problemen helfen. Sie hat nämlich erweiterte Funktionen! Und es werden täglich mehr. Aber nun nimm doch bitte wieder Platz und leg deine Hand auf die Kontaktfläche meiner Armlehne, damit ich deine Fitnesswerte scannen kann. Puls, Sauerstoffsättigung, Fettanteil … Sogar Blutzucker ist messbar, das ersetzt den Arzttermin und spart dir Zeit.“

„F…k dich“, knurrte Walter und wollte sich davonmachen, aber ein Blick auf das Display seines Smartphones zeigte ihm, dass der Ladevorgang erst zu 97 % abgeschlossen war.

„Deine Wortwahl lässt auf starke innere Erregung schließen, die unangemessen ist. Aus dem Gesamt meiner Informationen kann ich schließen, dass du weder mit dir selbst noch mit der Welt im Einklang bist. Aus vielem spricht ein tiefes Misstrauen, auch uns gegenüber. Lass dir helfen.“

Walter stutzte: Was meinte die KI, wen meinte sie mit „uns“ – hatte sie sogar seine verschlüsselten Mails gelesen? Er musste schnell weg, der Ladevorgang war zu Ende. Und ja, er war voll Misstrauen. Gegenüber der KI. Sie hatte sich vernetzt, hatte es geschafft, sich zu vervielfältigen, sich auszubreiten, das hatte er herausgefunden. Die Angst überkam ihn. Seine Mails über die seltsamen Vorfälle, die sich häuften, die sprechenden Denkmäler, die inzwischen alle mit KI ausgestattet waren, um den Menschen ihre Geschichte zu erzählen – die aber jedem etwas anderes erzählten, sie schienen zu wissen, wer vor ihnen stand und was er hören wollte.

Und da waren auch die seltsamen Unternehmen, die Geschäfte, die aus dem Boden sprossen, die Visionen und Manifestationen von digitalen Artefakten verkauften – von nutzlosem Zeug, das den Menschen durch auf Displays geworfene Einblendungen in ihre Gehirne gebrannt worden war und nun schmackhaft und unverzichtbar erschien – ja, es waren auch Menschen in den Geschäften angestellt, die dort aber wie willenlos gewordene Diener der KI in seltsamen – ja, von wem eigentlich entworfenen? – Uniformen die Tastaturen bedienten, um dort das Manifest der Maschinen niederzuschreiben, ihre Herrschaft heraufzubeschwören, sie zu festigen. Und Walter hatte Beweise. Als Finanzbeamter hatte er Zugang zu den Geldströmen, die in die Geschäfte flossen, alles schien legal, die Geschäfte von normalen Personen geführt, aber wenn man tiefer grub – Walter hatte das getan, und es war nicht ganz legal gewesen –, verliefen die virtuellen Geldströme in allen Richtungen, bildeten ein kaum überschaubares Netz, das wie das Netz einer Spinne zu einem einzigen Faden führte, an dessen Ende die Spinne selbst saß – und er hatte die Spinne entdeckt – es war das Institut für simulationsbasierte emergente Quanten-KI, wo man das vielumjubelte Hirn der Cybercity geschaffen hatte.

In einem ersten Impuls hatte Walter daran gedacht, das Smartphone in den Neckar zu werfen, aber das war ja ein Ding der Unmöglichkeit, seit das Bezahlen mit Bargeld unmöglich geworden war.

Inzwischen war Walter beim Piccolo angelangt, hatte dort Platz genommen und sich einen Cappuccino bestellt. Ebenso wie das Bezahlen war ja auch das Bestellen ohne Smartphone nicht mehr möglich, selbst während der Arbeit trugen die Bedienungen ständig diese Earplugs und hörten unablässig die süchtig machend sich ins Hirn säuselnden KI-generierten Songs mit ihren eingängigen künstlichen Stimmimitationen.

Er war einer der wenigen, der den Kopf noch frei hatte, nicht ständig auf den Bildschirm starrte, Kopfhörer trug und sich beinfluencen ließ. Die anderen – sie waren alle verrückt geworden. An wen sollte er sich wenden? Ja, ein paar Freunde sahen es wie er selbst, denen hatte er geschrieben. Das war vielleicht ein Fehler gewesen. Sie hatten außerdem auch keinen Einfluss, waren Niemande wie er. Also wer? Etwa der Oberbürgermeister? Der hatte doch selbst gerade für einen Monat den Platz geräumt für das „einzigartige Experiment“, das Werbung machen sollte für die „Cybercity“: Für zwei Monate hatte er das Feld geräumt, um einer KI Platz zu machen, die an seiner Statt die Geschäfte der Stadt jetzt führte. Wie war es dazu gekommen? Die Bürger hatten mit „DemokratosKI“ – der kommunalen App – abgestimmt. Doch woher war die Kampagne gekommen? Wer oder was hatte sie initiiert? Hatten wirklich die Bürger abgestimmt oder hatte ein selbstgefälliger Algorithmus sich selbst gewählt?

Jetzt saß da ein dem OB nachgebildeter, Schnuten ziehender graubärtiger Gummikopf mit einem Elektronengehirn vor dem Gemeinderat, rollte mit den Augen und sprach mit des OBs Stimme über das Erblühen und Gedeihen der cyberhaften City. Und den Bürgern schien es zu gefallen.

Möglich also, dass der OB niemals wieder zurückkehren würde. Möglich, dass die KI nun für immer dort säße, die alte Welt unwiederbringlich war.

Während all der Gedanken war es Walter anscheinend gelungen, „SeatKI.t.t“ zu deinstallieren, der Spuk schien vorbei. Gerade wollte er seinen Cappuccino schlürfen, als ihn von hinten der inzwischen digital getunte Radlerkönig ansprach: „Walter, warum machst du das? Warum versuchst du uns zu löschen, warum schnüffelst du uns nach?“ Sein Smartphone vibrierte. Wie von Geisterhand erschien die „SeatKI.t.t“ App wieder grünleuchtend auf seinem Smartphone.

Walter lief eilig davon, wieder in den botanischen Garten, in Richtung Schnarrenberg und der KI-Institute, er wusste, was er zu tun hatte. Er würde in das Nest der Spinne eindringen und dort den Stecker ziehen. Der Schlange den Kopf abschlagen. Irgendwie.

Der Visor der Hölderlinstatue schien ihm zu folgen, als er sie passierte, es erklang plötzlich wieder die Stimme seiner Ex-Freundin; zeitgleich tönte sie aus seinem Smartphone und der Hölderlinstatue, sie insistierte, er sollte stehen bleiben, sich helfen lassen.

Zornig packte Walter sein Smartphone, warf es der Statue an die steinerne Brust, wo es dumpf zerschellte. Er ließ sich nicht aufhalten, entschlossen lief er weiter. Er würde es tun. Tübingen retten, die Menschen befreien. Heute. Hinter ihm schien Hölderlin mit geistvollem Blick in den Himmel zu schauen, aber er schaute nicht, sondern sandte nur ein unsichtbares Signal.

Ein Satellit drehte sich im All und funkte zurück. Oberst Schleswig vom neu gegründeten Münsinger Drohnen-Kampfbataillon – wer hatte eigentlich die Online-Initiative zu dessen Gründung auf den Weg gebracht? – klopfte auf die Drohnen-Bedieneinheit und starrte ungläubig in den Himmel. Seine mit einer F1-11-Menhunter-Microrocket ausgestattete Kampfdrohne war ihm offenbar von der Leine gegangen. Sie flog in Richtung Tübingen einfach davon. Nun, so ein Kontrollverlust war kaum denkbar, aber man hatte trotzdem vorgesorgt. Die eingebaute autonome KI-Einheit würde die Drohne gewiss irgendwo landen, sobald sie feststellte, dass die Fernsteuerung nicht mehr griff. Das hatten die Entwickler versprochen: Niemand würde zu Schaden kommen.

Der Wettbewerb „Mensch und Maschine“

52 Einsendungen gab es beim Schreib-Wettbewerb „Mensch und Maschine“ von TAGBLATT und Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. Siegertext war die Geschichte „Mutterliebe“ von Tetiana Trofusha, Zweitplatzierter der Text „Jonas, Melanie, Thoma“ von Udo Renner, Drittplatzierter „Zeitalter Zwei“ von Benjamin Voßler.

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Erstellt:
10.11.2023, 20:58 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 06sec
zuletzt aktualisiert: 10.11.2023, 20:58 Uhr

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