Landgericht · Er kann Impulse nicht zurückhalten

Frauen und Kinder angegriffen: Psychisch Kranker muss in Klinik bleiben

Der 39-Jährige, der zwischen dem 20. Juli und dem 20. Dezember 2016 in der Reutlinger Innenstadt und in Wannweil ohne erkennbaren Anlass mehrere ihm zuvor unbekannte Frauen geschlagen hat, muss weiterhin in einer Psychiatrischen Klinik bleiben. Das entschied am Mittwoch das Landgericht Tübingen.

27.07.2017

Von Dorothee Hermann

Symbolbild: Sommer

Symbolbild: Sommer

Die drei Berufsrichter und die beiden Schöffen mussten abwägen, ob die Taten des Beschuldigten so schwerwiegend waren, dass sie es rechtfertigen, ihn zunächst auf unabsehbare Zeit zur stationären Behandlung einzuweisen, erläuterte der Vorsitzende Richter Ulrich Polachowski. Dem Mann waren acht Körperverletzungen und vier Versuchstaten angelastet worden. Er war jeweils schuldunfähig oder zumindest in seiner Steuerungsfähigkeit stark eingeschränkt.

Ein gesunder Mensch hätte für vergleichbare Taten eine Freiheitsstrafe nicht über ein Jahr bekommen, so der Richter. Der 39-Jährige aber muss zunächst auf unabsehbare Zeit in der Klinik bleiben. Das hängt damit zusammen, dass einige der von ihm attackierten Frauen alt und manche auch krank waren. „Man muss diese Menschen schützen“, sagte Polachowski. „Es geht nicht, dass der Beschuldigte ältere Menschen schlägt oder Mitpatienten, die schon aufgrund ihrer Erkrankung wehrlos sind, oder dass er gegen einen Kinderwagen tritt, wie in der Reutlinger Innenstadt.“

Sobald sich eine Wohngruppe oder Einrichtung findet, die adäquat mit dem Mann und seinen Störungen umgehen kann, sollte er die Möglichkeit bekommen, dorthin zu wechseln, so der Richter. „Dann kann die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden.“

Der 39-Jährige weist ein komplexes Krankheitsbild auf. Der psychiatrische Gutachter Dr. Stephan Bork diagnostizierte eine leichte Intelligenzminderung, die jedoch nicht ausreiche, um das gesamte Spektrum der Verhaltensauffälligkeiten des Mannes zu begründen. Eine Psychose im Jugendalter habe sich bei dem Erwachsenen zu einer paranoid-halluzinatorischen Störung entwickelt, die sich durch medikamentöse Behandlung gebessert habe. Zudem bestehe eine autistische Störung, auch außerhalb von akut psychotischen Phasen.

Seit Ende 2015 habe sich der Zustand des Beschuldigten verschlechtert, sagte der Gutachter. Er durfte nicht mehr in der Reutlinger Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten und litt unter dem Verlust der Tagesstruktur. Und er bekam immer mehr Medikamente, die aber nicht halfen. „Das war auch Ausdruck der Hilflosigkeit der Ärzte“, sagte Bork.

Der Mann war vermehrt stationär in einer Psychiatrischen Klinik, teils zur Krisenintervention, teils über längere Zeiträume. Es gelang nicht, eine intensivere sozialpsychiatrische Betreuung außerhalb der Klinik für ihn zu finden. Er geriet in Angstzustände, spürte den Verlust von Fähigkeiten (er konnte nicht mehr allein mit dem Bus fahren), zeigte fremdaggressives Verhalten.

Seit Januar 2017 ist der 39-Jährige vorläufig in einer Psychiatrischen Klinik in Oberschwaben. Dort sei es gelungen, ihn zu stabilisieren, obwohl die Medikamente reduziert wurden. „Hut ab!“, lobte der Gutachter. Fremdaggression und Angstzustände bestünden fort – Anfang Juli gegen eine Mitpatientin, am Vorabend des Prozessauftakts vor einer Woche gegen Pflegepersonal in einem Konflikt um Medikamente.

Bork betonte, die seelische Störung des Mannes sei durch einen stationären Klinikaufenthalt nicht heilbar. „Es ist ihm klar, dass man andere nicht schlägt. Er kann nur nicht, wie ein Gesunder, Impulse zurückhalten.“ Auf Dauer benötige der Beschuldigte eine Einrichtung, die Ruhe, Stabilität und Sicherheit biete und die seine vorhandenen Fähigkeiten fördere. Sogar die Zeugen hätten erkannt, „dass das ein kranker Mensch ist, dem geholfen werden soll“.

„Es geht nicht um eine Strafe, sondern um den Schutz der Allgemeinheit und darum, eine gute Lösung für den Beschuldigten zu finden“, sagte auch der Staatsanwalt. Die Verteidigerin ergänzte: „Er ist in der Lage, das Unrecht seiner Taten einzusehen, kann aber nicht entsprechend handeln.“

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Erstellt:
27.07.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 40sec
zuletzt aktualisiert: 27.07.2017, 01:00 Uhr

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