Schüler werden in der Pampa ausgesetzt

Französische Schule erprobt in Tübingen neues Lernmodell: sich durchschlagen statt pauken

Du steigst in ein Auto und wirst irgendwo in unbekannter Pampa rausgelassen. Von nun an heißt‘s: zurückfinden, sich durchschlagen mit wenig Geld und ohne Handy, aber in einer Gruppe, die durch dick und dünn zusammenhält oder -halten sollte. Das Erstaunlichste daran: Es handelt sich nicht um Reality-TV, sondern um Unterricht. Die Französische Schule in Tübingen probiert das aus.

30.04.2016

Von Ulla Steuernagel

An Herausforderungen wächst man. Wie sich das anfühlt, probiert die 8a der Französischen Schule schon mal mit Hochsprüngen aus.Bild: Steuernagel

An Herausforderungen wächst man. Wie sich das anfühlt, probiert die 8a der Französischen Schule schon mal mit Hochsprüngen aus.Bild: Steuernagel

Tübingen. Gleich nach den Pfingstferien geht es los. Am Montag, 30. Mai, um 8.15 Uhr werden rund hundert Schülerinnen und Schüler der siebten und achten Klassen im Gebäude der Mörikeschule verabschiedet. Jetzt liegen zwei Wochen vor ihnen, in denen sie keine Schulbank drücken, dafür aber im echten Leben echte Erfahrungen machen werden. Die Schüler haben sich zu Gruppen von maximal sieben zusammengetan und werden ganz unterschiedliche Wege einschlagen. Manche ziehen zu Fuß los, andere mit Rädern, wieder andere gehen zum Bahnhof und einige steigen in Autos, die zugleich die Kanus transportieren, mit denen sie dann in den Regen, also den Fluss, gelassen werden.

Am abenteuerlichsten klingt die Aufgabe, die sich eine Gruppe von Jungs gestellt hat: Sie wird auf unbekanntem Terrain ausgesetzt und muss den Rückweg nur mit Hilfe von Kompass und Kommunikation finden. Andere arbeiten zwei Wochen auf einem Bauernhof mit oder legen einen Teich an und kehren abends heim. Kein Schüler soll sich überfordern, sondern sich einer Herausforderung stellen, und was jemand als solche empfindet, ist individuell sehr verschieden. „Es gibt viele Herausforderungen, aus denen sich die ,Herausforderung‘ zusammensetzt“, erklärt Anton aus der 8a. Und auch das sagt der Schüler: Wichtig sei nicht, am Ziel anzukommen, sondern mit der Gruppe klarzukommen.

Lehrer Joschi Lerchenmüller sagt es anders. Er spricht von einem „persönlichkeitsbildenden Projekt“ und „sozialen Prozessen“. Was passiert, wenn eine Gruppe seit Tagen in die falsche Richtung läuft? Nun ist es nicht so, dass die Schüler „Dschungelcamp“-mäßig nach dem Slogan „Friss oder stirb“ den Unbilden ausgesetzt sind. „Konfliktlösungen in Morgenkreisen oder Klassenrat“ gehören zum Erziehungsauftrag der Französischen Schule, dies betont Lerchenmüller.

Das Budget

ist begrenzt

Die Schüler, die auf zweiwöchige Tour gehen, wissen, dass sie nichts Verbotenes tun dürfen. Aber da es 13- bis 14-Jährigen manchmal nicht leicht fällt, sich in jeder Situation daran zu erinnern, wird ihnen ein erwachsener Betreuer oder eine Betreuerin zur Seite gestellt. Diese achten darauf, dass alles legal verläuft, aber sie greifen nur in Extremfällen ein: Wenn die Schüler/innen sich überfordern, in gefährliche Situationen geraten oder wenn jemand krank wird. Im Notfall schlagen die Betreuer dann mit ihrem Handy Alarm.

Ganz bewusst sind die erwachsenen Begleiter weder Lehrer noch Eltern. Es sind PH-Studierende aus Ludwigsburg. Sie bringen größtenteils Waldheim- oder Pfadfinder-Erfahrung mit. Sie haben für das betreute Abenteuer Rettungsschwimmer gemacht und Erste-Hilfe-Kurse besucht. „Wenn man die Begleiter sieht“, so sagt Lena Neurauter, die Mutter eines Siebtklässlers, würden sich mögliche Bedenken zerstreuen: „Dann ist man schon beruhigt.“

Das Budget der Schülergruppen ist sehr begrenzt. Sie müssen sich zwei Wochen lang mit 150 (höchstens 200) Euro durchschlagen. Da bleiben pro Tag und pro Kopf gerade mal 10 Euro für Schlafen, Essen, Trinken und außerordentliche Ausgaben wie Radreparaturen. Auch der Begleiter muss aus der Gruppenkasse durchgefüttert werden.

Zur Vorbereitung gehört also auch, sich kundig zu machen, wie viel ein Laib Brot kostet und wie viele Mäuler davon sattwerden können, sagt Lerchenmüller. Zur Vorbereitung gehörten aber auch noch andere Erfahrungen, dass Gruppen vor Antritt auseinanderbrachen oder dass Projekte zu hochgegriffen waren. Konkurrenzkämpfe zwischen den Gruppen seien weniger beobachtet worden, so Lehrerin Ulrike Haupt: „Da gab es eher Austausch!“ So habe man sich bei der Auswahl der Campingplätze gegenseitig geholfen.

Ja, und wie herausfordernd ist die „Herausforderung“ für die Eltern? Lena Neurauter hofft auf eine tolle Erfahrung für ihren Sohn und einen Schub an Selbstständigkeit. „Es ist heute so schwierig, die Kinder zu Selbstständigkeit zu erziehen“, sagt sie, denn im Alltag sei immer alles so dicht gedrängt. Auch für die meisten Eltern ist es eine neue und keineswegs einfache Erfahrung, denn die meisten werden zwei Wochen lang nichts von ihren Kinder hören.

Auch die Jugendlichen ahnen, dass ein Leben ohne Handy nicht einfach sein wird. Marvin aus der 8a wird jedoch etwas anderes viel mehr vermissen: Musik, denn ohne Musik glaubt er, nicht überleben zu können. Er muss nicht ganz auf sie verzichten, denn – auch diese Möglichkeit gibt es – er wird zwei Wochen lang mit Försterhilfe einen Teich bauen und abends immer daheim sein können.

Gegessen wird, was

auf den Tisch kommt

Andere haben sich schon akribisch ihre Ausrüstung überlegt und eine gewisse Arbeitsteilung vorgenommen. Die eine ist Kassenwart, einer ist eine Art Außenminister und für Fragen nach dem Weg zuständig, und einer empfahl sich einer Gruppe als Koch. Viele Gruppen ziehen mit Campingkochern los, alles andere überfordert das Budget. Wird es wohl Krach ums Essen geben oder wird einfach gegessen, was auf den Tisch in Wald und Wiesen kommt? Frido ist recht zuversichtlich. „Wenn man den ganzen Tag gelaufen ist und Hunger hat, dann isst man doch alles!“

gsiehe auch das „Übrigens“

Die Pioniere der Französischen Schule

Das Projekt heißt „Herausforderung“, und es wird zum ersten Mal im gesamten süddeutschen Raum an der Französischen Schule erprobt. Entwickelt wurde dieses Schulfach, das das Gegenteil von Schule ist, an der Evangelischen Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum. Dieser Versuch, Schule neu zu denken, geriet sehr erfolgreich. Dort brachen 2010 die ersten Schüler/innen zur „Herausforderung“ auf. Seitdem ist eine dreiwöchige Tour auf sehr eigene Faust ab (Anfang) der achten Klasse Bestandteil des Stundenplans. Lehrer der Französischen Schule haben sich an der Berliner im vergangenen Jahr umgeguckt und umgehört. Umgekehrt waren auch Schüler von dort in Tübingen zu Gast und haben über ihre „Herausforderung“ berichtet. Vor allem aber haben sie mit ihrer Begeisterung die Tübinger angesteckt, so dass Schüler, Lehrer und Eltern hier auch die „Herausforderung“ annahmen.

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Erstellt:
30.04.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 53sec
zuletzt aktualisiert: 30.04.2016, 01:00 Uhr

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Johannes S. 30.04.201623:39 Uhr

Nach zwei Wochen Ferien mit neuen Lebenserfahrungen kamen die Schüler bisher zurück zur Schule, um von gut ausgebildeten Pädagogen in verschiedenen Fächern den restlichen Stoff bis Juli gelehrt zu bekommen. Anders nun hier: Die Schüler verzichten - welcher 13-jährige würde dies nicht - begeistert auf die Mathematik und das Wörterlernen und ziehen dafür in den Wald. Unbestreitbar auch eine Lebenserfahrung. Praktischer Nutzen: Eltern dürfen später als Hilfslehrer den Stoff erklären. 240 Stunden Unterricht - für den die Lehrer bezahlt werden - werden gestrichen, Unterricht, Aufsichtspflicht, Verantwortung an externe Betreuer abgegeben. Warum nicht Pfadfinderferien in den Ferien und Unterricht in der Schule? Die Eltern, die nichts von solcher Eventpädagogik halten, werden wohl schweigen. Wer will schon den neuen Gemeinschaftsgeist stören und sich den Höhenflügen aller Art aus Berlin entgegenstellen.

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