„Seit 42 Jahren haben wir Krieg“

Wali Fakhruddin wurde bedroht, weil er in Afghanistan für die Pressestelle des Bildungsministeriums

Er habe so viel freie Zeit – wieso diese nicht nutzen?, fragt Wali Fakhruddin. Gerne würde der 25-Jährige einen Deutschkurs besuchen und dann studieren. Aber so einfach ist das nicht für Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus. Dabei bringt der junge Mann die besten Voraussetzungen mit: In Afghanistan hat er einen Bachelor gemacht und auf der Pressestelle des Bildungsministeriums gearbeitet.

18.05.2016

Von Gabi Schweizer

Wali Fakhruddin fühlt sich wohl in Mössingen – aber dass zur Untätigkeit gezwungen ist, deprimiert ihn. Viel Zeit verbringt er in der Stadtbibliothek, wo es nicht nur eine Stunde kostenloses Internet pro Tag gibt, sondern auch viele Bücher zum Deutsch lernen. Bild: Rippmann

Wali Fakhruddin fühlt sich wohl in Mössingen – aber dass zur Untätigkeit gezwungen ist, deprimiert ihn. Viel Zeit verbringt er in der Stadtbibliothek, wo es nicht nur eine Stunde kostenloses Internet pro Tag gibt, sondern auch viele Bücher zum Deutsch lernen. Bild: Rippmann

Mössingen. Zum TAGBLATT-Interview kommt Wali Fakhruddin mit einem Stapel Papiere. Das Wichtigste liegt obenauf – sein Zeugnis von der Bakhtar Universität in Kabul. Dort hat er vor zwei Jahren seinen Bachelor in Business Administration (Verwaltung) abgeschlossen. Wäre er in einem anderen Land geboren worden, hätte er hinterher wohl Karriere gemacht. Aber Wali Fakhruddin ist Afghane. Und schon ein scheinbar harmloser Beruf brachte ihn in Gefahr.

Wali Fakhruddin ist ein höflicher junger Mann, der seine Geschichte mit ruhiger Stimme in fließendem Englisch erzählt. Geboren ist er in der Provinz Ghazni im Süden des Landes, zwischen Kabul und Kandahar gelegen. Mit vier Geschwistern, zwei Brüdern und zwei Schwestern, wuchs er auf dem Dorf auf. Der Vater betrieb – und betreibt – eine Landwirtschaft. Nach der neunten Klasse wurde der junge Wali zu einer Tante nach Kabul geschickt, wo er das Gymnasium besuchen und Abitur machen konnte. Eine Zeitlang hat er danach auf dem Hof des Vaters gearbeitet, weil das Geld nicht sofort für die Universität reichte. Im Jahr 2010 konnte er sich schließlich einschreiben. Und weil er geschickt war im Umgang mit Computern, verdiente er sich nebenher etwas Geld, indem er Zeitschriften und Newsletter für das afghanische Bildungsministerium designte.

Gleich nach der Uni erhielt er seinen ersten richtigen Job beim Ministerium: Er wurde „textbook officer“ für seine Heimatprovinz, was bedeutet, dass er zunächst erheben musste, wie viele Schulbücher wo benötigt wurden, und diese dann selbst verteilte. Doch in der Provinz Ghazni sind die Taliban stark: „Die Lage ist schlimmer als vor 15 Jahren.“ Schnell habe er mit ihnen Probleme bekommen, weil er für die Regierung arbeitete und weil er zwar Muslim sei, die Religion aber nicht praktiziere. In den Büchern würde christliches Gedankengut verbreitet, behaupteten die Taliban. Vom Christentum sei überhaupt nicht die Rede gewesen, sagt Fakhruddin: „Sie haben nur einen Vorwand gesucht.“ Er fühlte sich so bedroht, dass er sich nach zehn Monaten auf die Pressestelle des Bildungsministeriums versetzen ließ. Er bereitete Pressekonferenzen vor, vereinbarte Interviewtermine, lud Journalisten aus aller Welt ein, knüpfte freundschaftliche Kontakte zu Reportern. Journalismus interessiert ihn. Neben seinem eigentlichen Job schloss er sich einem Pressenetzwerk an, der National Journalist and Correspondents’ Union of Afghanistan.

Durch seine Arbeit auf der Pressestelle des Ministeriums tauchte er allerdings immer wieder selbst in den Medien auf. Und so sei er massiv von den Taliban bedroht worden: „Wenn du nicht aufhörst zu arbeiten, bringen wir dich um“, zitiert er aus einem Brief. Sogar die eigene Familie riet ihm schließlich, das Land zu verlassen – wohlwissend, dass dies eine lange, wenn nicht sogar endgültige Trennung bedeuten würde. Seine Eltern und seine jüngere Schwester vermisse er sehr, sagt Wali Fakhruddin. „Wir stehen uns sehr nahe. Es gehört zur afghanischen Kultur, mit seiner Familie zu leben.“

Eine mehrwöchige Flucht hat Wali Fakhruddin durch den Iran, die Türkei und Griechenland auf der Balkanroute nach Deutschland gebracht. „Wir hatten viele Probleme auf dem Weg“, deutet er an. 14 Stunden lang sei er an der türkischen Grenze über verschneite Berge gewandert. Und sehr genau weiß er noch, wie lange es dauerte, mit dem Boot nach Griechenland überzusetzen: Drei Stunden und 20 Minuten. Auf der Insel Samos wartete er eine Woche, ehe er seinen Weg fortsetzen konnte. In guter Erinnerung sind ihm die Helfer/innen, die auf der Fluchtroute Kleidung und Essen verteilten.

Den in Frankfurt lebenden Bruder hat Wali Fakhruddin mittlerweile drei Mal getroffen und zunächst versucht, ebenfalls nach Frankfurt zu ziehen. Das hat nicht geklappt, die Behörden schickten ihn nach Mössingen, wo er seit Februar in der neu eingerichteten Sammelunterkunft im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma Mehl lebt. Er hat sich damit arrangiert: „Das ist ein guter Ort“, sagt er. „Sobald ich mich eingelebt habe, werde ich hier glücklich sein.“

Allerdings gestaltet dieses Einleben sich nicht so einfach. Noch immer hat der junge Mann keinen Asylantrag stellen können, obwohl er seit vier Monaten im Land ist. Beim ersten Termin hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge offenbar viel zu viele Menschen nach Karlsruhe einbestellt. „Uns wurde gesagt, sie nähmen täglich nur 50 Leute dran. Es waren aber über 100 da. Sie haben dann die Familien vorgezogen“, berichtet Wali Fakhruddin. „Die Singles kamen nicht mehr dran.“

Nun heißt es wieder Warten. Was insofern schwierig ist, als am Asylantrag und dem (positiven) Bescheid viele weitere Genehmigungen hängen. Nur Schutzsuchende mit Bleibeperspektive (Iran, Irak, Syrien, Eritrea) können schon einen Integrationskurs besuchen, wenn die Asyl-Entscheidung noch aussteht, der Antrag aber schon gestellt wurde. Diese Phase nennt sich Aufenthaltsgestattung. Als Afghane gehört Wali Fakhruddin nicht zu den Geflüchteten mit guter Bleibeperspektive. Was er nicht verstehen kann: „Wir haben seit 42 Jahren Krieg!“

Theoretisch könnte er den Integrationskurs an der Volkshochschule selbst bezahlen. Praktisch ist das ausgeschlossen. Ein Kurs koste 310 Euro, er selbst habe monatlich 320 Euro zur Verfügung. Zwar besucht er die vom Freundeskreis Asyl in Mössingen angebotenen Kurse, aber das Niveau der anderen Teilnehmer/innen ist sehr unterschiedlich, und ein offizielles Zertifikat gibt es hinterher auch nicht. Das braucht Fakhruddin, wenn er in Tübingen ein Masterstudium beginnen will. Sehr gute Sprachkenntnisse auf C1-Level sind dann gefordert.

Fast hätte sich, mit Hilfe des Asylzentrums Tübingen, eine Chance aufgetan,  schon jetzt einen Integrationskurs zu besuchen. Im Programm StellA („Schnelle Integration von Flüchtlingen und Asylbewerber/innen in gemeinsamer Verantwortung“) der Arbeitsagentur Tübingen / Reutlingen war ein Platz frei geworden. Aber das Niveau (A2) war zu hoch. So weit ist Wali Fakhruddin noch nicht. Am liebsten würde er die Sprache samt Grammatik von Grund auf lernen. „Die Grundlagen müssen gut sein“, findet er. Ob beim nächsten Aufnahmetest in einigen Wochen wieder ein Platz frei ist, ist fraglich, sagt Ruben Malina vom Asylzentrum, der den jungen Mann berät.

Malina fände es hilfreich, wenn Fakhruddin zusätzlich die Tübinger Angebote  wie Sprachtandems an der Uni und Kurse im Schlatterhaus wahrnehmen könnte, nach dem Motto „viel hilft viel“. Das Problem sei hier die kostspielige Fahrkarte, für die es keine zusätzliche Unterstützung gibt. Am besten wäre es darum, wenn Wali Fakhruddin schnell als Flüchtling anerkannt würde. Angesichts der langen Wartefristen ist das unwahrscheinlich. „Es kann sein, dass er ein halbes Jahr warten muss, bis über seinen Antrag entschieden ist“ – den er ja bisher noch nicht einmal stellen konnte. 

Sein Bachelor-Zeugnis muss Fakhruddin an der Uni daraufhin prüfen lassen, ob es mit einem deutschen Abschluss gleichwertig ist. Ist das der Fall, darf er sich direkt für einen Master bewerben, erklärt der für ausländische Studierene zuständige Reinhard Brunner von der Uni Tübingen. Welchen Aufenthaltsstatus Fakhruddin hat, spielt für die Universität keine Rolle. Allerdings stellt sich die Finanzierungsfrage, denn Studierende bekommen keine Grundsicherung, und BaföG dürfen Asylbewerber frühestens nach 15 Monaten beantragen – es sei denn, sie werden vorher anerkannt.

Einstweilen ist Wali Fakhruddin eine wichtige Stütze für den Freundeskreis Asyl, für den er Texte aus dem Englischen in seine Muttersprache Farsi übersetzt: Viele Bewohner der Unterkunft sind ebenfalls aus Afghanistan geflüchtet. Für sein Stockwerk agiert er als eine Art Sprecher, oft begleitet er Landsleute zum Arzt. Neben Farsi und Englisch beherrscht er Paschtu, die zweite wichtige Sprache Afghanistans. Deutsche hat er bislang vor allem innerhalb des Freundeskreises kennengelernt. Vielleicht ändert sich das, wenn er in Tübingen studiert. In einer WG wohnen – warum nicht? Woher seine künftigen Mitbewohner kommen, welche Religion sie haben, das spiele doch keine Rolle, findet Wali Fakhruddin: „Wir sind doch alle Menschen!“

Geflüchtete an der Tübinger Universität

„Die Universität Tübingen ist offen für Flüchtlinge“, schreibt die Uni auf ihrer Homepage. Gasthörer kann jeder registrierte Flüchtling werden, der eine „hinreichende Bildung“ nachweist – was nicht zwingend das Abitur sein muss. Flüchtlinge müssen für den jeweils ein Semester gültigen Gasthörerstatus nichts bezahlen, normalerweise werden dafür 50 Euro fällig. Außerdem gibt es zahlreiche Initiativen und Ideen, um Geflüchteten den Weg an die Uni zu erleichtern: Sprachtandems, studentische Mentor(inn)en, Projekte einzelner Fachbereiche wie der Kurs „Studierende unterrichten Flüchtlinge“ des Fachbereichs Mathematik oder das Gaststudium „Theologie für Flüchtlinge“, bei dem die Katholisch-Theologische Fakultät mit dem Zentrum für Islamische Theologie kooperieren. Ein Vorstudium und Sprachkurse ab B2-Niveau beginnen im Herbst. Die Teilnehmer müssen nicht immatrikuliert sein, so dass die Grundsicherung nicht wegfällt. Wie viele Flüchtlinge unter den fest eingeschriebenen Studierenden sind, erhebt die Universität nicht. Berater Reinhard Brunner schätzt ihre Zahl auf etwa 50 bis 60.

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Erstellt:
18.05.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 26sec
zuletzt aktualisiert: 18.05.2016, 01:00 Uhr

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