NS-Zeit

Verwehte Erinnerungen

In der Endphase der NS-Herrschaft wurden auch in Tübingen Soldaten hingerichtet. Ihr Schicksal aufzuklären, ist das Anliegen von Hans-Joachim Lang.

01.06.2017

Von Wolfgang Albers

H.-J. Lang. Archivbild: Sommer

H.-J. Lang. Archivbild: Sommer

Ende 1944 war der Krieg für Deutschland verloren. Aber die Nationalsozialisten kapitulierten nicht, sondern setzten das Land einer beispiellosen Vernichtungsorgie aus. Die deutschen Städte gingen im Bombenhagel unter. In den letzten zehn Kriegsmonaten starben mehr Zivilisten als in all den Kriegsjahren davor. Ein Massensterben war die Kriegs-Endphase gerade auch für die Soldaten. 2,6 Millionen, fast so viele wie seit 1939, starben in einem knappen Jahr. Am Schluss waren es monatlich 300 000 bis 400 000 – jedes Mal ein gigantisches Stalingrad.

Die Gründe für diesen selbstmörderischen Irrwitz sehen Historiker nicht zuletzt im Terror des Regimes gegen das eigene Land – und gegen jeden Soldaten, der kriegsmüde war. Die Militärgerichte verhängten Todesurteile am Fließband, 30 000 waren es schließlich. Ein Ort dieses Terrors war auch Tübingen. Und wie so oft: Nach dem Krieg wurde das schnell verdrängt und verschwiegen.

Ein „Dickicht verwehter Erinnerungen“ nennt das Hans-Joachim Lang, langjähriger TAGBLATT-Redakteur und jetzt Honorarprofessor am Ludwig-Uhland-Institut. Ein Anruf hat ihn vor Jahren in dieses Dickicht geführt. Der frühere Universitätszeichenlehrer war am Apparat: Es gebe da eine Geschichte, die ihm seit Jahrzehnten auf der Seele liege. Als 17-Jähriger, Deutschland kratzte seine letzten Personalreserven zusammen, war dieser Mann in die Hindenburg-Kaserne in der Südstadt einberufen worden. Und dort sei ein Soldat wegen Desertion eingesperrt gewesen, sei geflohen und wieder eingefangen – und dann hingerichtet worden.

Wer waren die Opfer?

In Artikeln hat Hans-Joachim Lang über seine Recherchen berichtet, und am Dienstagabend dann auch im gut besetzten Schwurgerichtssaal des Landgerichtes – als Begleitvortrag zur Ausstellung im Landratsamt über die Wehrmachtsjustiz.

Nachforschungen führten bald zu etlichen Männern, die damals ebenfalls Jungrekruten in der Hindenburg-Kaserne gewesen waren. Sie öffneten ihre Erinnerungen und berichteten von Exekutionen. Nicht immer deckungsgleich. Mal sind die Zeiten unterschiedlich, mal die Zahl der Opfer, mal die Details. Aber ein Kern bleibt: Es gab Erschießungen (Hans-Joachim Lang geht von mindestens zweien aus), es gab wohl eine vergebliche Flucht, und die Erschießungen wurden als abschreckende Exempel inszeniert. „Wir waren damals überzeugte Nationalsozialisten“, bekam Hans-Joachim Lang von den Zeitzeugen zu hören, „aber wir waren geschockt.“

Wer waren die Opfer, wer waren die Täter? Diese Suche ist wesentlich schwieriger. Auch, klagt Lang, weil heute noch Behörden hinhaltenden Widerstand gegen Auskunftsbegehren zeigten – mit der Begründung Datenschutz.

Herausgefunden hat Hans-Joachim Lang, dass der Divisionsstab der 405. Division Ende 1944 von Straßburg nach Tübingen verlegt wurde – und zu solchen Stäben gehörten auch Kriegsgerichte. 3000 Juristen amtierten da. Viele davon übrigens nach dem Krieg wieder in der deutschen Justiz tätig und nie zur Verantwortung gezogen – der Fall Filbinger ist das prominenteste Beispiel. Lang: „Erst 1995 hat der Bundesgerichtshof die NS-Militärjustiz als Blutjustiz bezeichnet – die Beteiligten hätten zur Verantwortung gezogen werden müssen.“

Immerhin kann der unermüdliche Forscher einen Schergen des Regimes benennen: den Tübinger Hauptmann Karl Schmidt, der einen der entflohenen Soldaten mit der Pistole im Rücken zurück zur Kaserne geführt hat. Und seine Rekruten anschrie, als die einen Fehler machten: „Ihr gehört genauso erschossen wie die Zwei, die im Wankheimer Tal erschossen wurden, von denen ich das Blut verscharrte.“ Auch dieser Mann häutete sich nach dem Ende der NS-Herrschaft: „Im Nachkriegs-Tübingen war er noch lange Jahre ein beliebter Sportfunktionär. Da war er dann der Elfmeter-Karle“, sagte Hans-Joachim Lang.

Schwieriger ist es, die Opfer-Namen zu ermitteln. Es gibt in der Südstadt den Platz des unbekannten Deserteurs. Aber, so betonte Lang: „Ich möchte nicht an unbekannte Deserteure erinnern, sondern an bekannte.“ Einen gibt es vielleicht: Einen Oberfeldwebel Blos, der im Elsass sich einem dieser sinnlosen Gefechte entzog. Ein Augenzeuge glaubt, ihn und zwei weitere Männer in Tübingen für die Hinrichtung vorbereitet zu haben: Auszeichnungen und Dienstgradabzeichen wurden abgenommen, ein weißer Stofffetzen über der Herzgegend befestigt.

26 Jahre alt soll dieser Blos gewesen sein, kein Schwabe und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet – ein Russlandkrieg-Veteran. Aber das alles hat bisher nicht ausgereicht, um ihn zu identifizieren oder sein Grab zu finden. „Ich denke, das kann nicht sein, dass das so offen bleibt“, sagt Hans-Joachim Lang. Mit seinem Vortrag will er am Vergessen rütteln: „Was mich so umtreibt, ist, dass in unserer so großen Stadt mit so vielen Forschern sich niemand mehr für dieses Thema interessiert.“

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Erstellt:
01.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 14sec
zuletzt aktualisiert: 01.06.2017, 01:00 Uhr

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