Mutterlose Kitze: Zu essen gibt’s Maulwurfserde und Klee

Tübinger Tierschützerin päppelt Rehkinder auf

Die Tübinger Tierschützerin Agnes Graf päppelt zwei mutterlos an der B 28 gefundene Rehkitze auf – Paul und Paula kriegen zwar noch das Fläschchen, können aber schon Bocksprünge machen.

21.06.2017

Von Philipp Koebnik

Paul und Paula; die beiden mutterlosen Rehkitze vom Rand der B28 wohnen derzeit in Tübingen. Bild: Sommer

Paul und Paula; die beiden mutterlosen Rehkitze vom Rand der B28 wohnen derzeit in Tübingen. Bild: Sommer

Vorsichtig tapsen die jungen Rehe auf ihren zierlichen Beinen übers Parkett – es ist ein bisschen rutschig. Besser geht es auf dem Teppichboden. Grazil, ja fast zerbrechlich wirken die zwei Kitze, die Agnes Graf im Lustnauer Berghof aufzieht und die sie auf die Namen Paul und Paula getauft hat. Die Wildtier-Spezialistin sagte sofort zu, als die „Tierrettung Neckar-Alb“ und der örtliche Jagdpächter sie kürzlich fragten, ob sie die beiden Jungtiere aufnehmen könne, die mutterlos an der B28 Richtung Burgholz gefunden worden waren. „Es ist ein Wunder, dass die zwei nicht überfahren wurden“, sagt Graf. „Nur ein paar Zecken mussten wir entfernen.“

Zu diesem Zeitpunkt waren die Kitze etwa eine Woche alt. Paula wurde alleine aufgefunden. Die ganze Nacht habe sie jämmerlich geschrien. Tags darauf fanden Wanderer das zweite Jungtier. Nach dem Ende der unfreiwilligen Trennung war die Erleichterung groß: „Wir konnten alle wieder durchschlafen.“ Das Muttertier war allerdings auch in den Tagen danach nicht auffindbar.

Befreundet mit Hund und Katz’

Die leidenschaftliche Tierschützerin fütterte Paul und Paula zunächst nur mit Ziegenmilch. Diese vertragen sie besser als Kuhmilch. „Wir sind ständig damit beschäftigt, Ziegenmilch herzuschaffen“, sagt Graf. Das sei gar nicht so einfach, denn auch in Bio-Läden seien die Vorräte zumeist knapp. „Wir würden die Milch auch abholen“, betont Graf.

Seit einigen Tagen gibt es für die Geschwister auch Heu und Kleeblüten, die Graf in ihrem Garten sammelt. Milch bekommen sie weiterhin, insgesamt bis zu einem halben Jahr.

Am Handgelenk prüft Graf, ob die Milch die richtige Temperatur hat: „38 bis 40 Grad sollte sie warm sein, sonst bekommen die Tiere Durchfall.“ Am Anfang noch etwas aufgeregt, ist Paul auf einmal ganz ruhig, wenn man ihm das Fläschchen mit der Ziegenmilch vor die Nase hält. Sogleich beginnt er zu trinken, dabei mit seinen dunklen Knopfaugen neugierig umherblickend.

Während Paula sich dezent zurückzieht, um auf dem Teppich im Badezimmer ein Nickerchen zu halten, ist Paul damit beschäftigt, unbeholfen durchs Wohnzimmer zu navigieren. Gerne lässt er sich kraulen und zeigt dabei leicht seine noch kleinen Zähne.

Die beiden Rehkitze sehen sich ähnlich, Pauls Fell ist allerdings am Rücken ein bisschen dunkler. Meistens sind beide ganz ruhig. Nur gelegentlich geben sie ein zaghaftes Fiepen von sich. Obwohl noch so klein, können sie „schon richtige Bocksprünge machen“, berichtet Graf.

Graf lässt die jungen Rehe durchs Haus springen, oft sind sie aber auch draußen. Im Garten steht ein kleines Gatter mit Heu darin. Frei kann Graf die Tiere nicht herumlaufen lassen, zu groß wäre die Gefahr, dass sie ausbüxen. Wenn sie größer sind, kommen sie in ein Gehege – allerdings nicht alleine, sondern mit zwei Ziegen, die ebenfalls auf dem Hof leben. „Rehe alleine zu halten wäre Tierquälerei“, findet sie. Ihrem Sozialverhalten entsprechend verlangen die Rehe Gesellschaft, sind sie doch sonst das ganze Jahr über im Familienverband unterwegs. Außerdem hat Graf einen Hund und mehrere Katzen, mit denen sich die Kitze bereits gut verstehen.

Seit vielen Jahren kümmert sich Graf immer wieder um verletzte oder ausgesetzte Tiere. „Ich finde, was am Leben ist, soll am Leben bleiben“, sagt sie. Seit rund 15 Jahren ist sie zudem in der „Tiertherapie“ engagiert. Mit Ziegen, Hühnern oder Enten besucht sie regelmäßig Bewohnerinnen und Bewohner mehrerer Pflegeheime im Kreis. Der Kontakt zu den aufgeweckten Tieren tue gut, gerade auch Menschen mit einer Behinderung oder Demenzerkrankung, ist sie sich sicher.

Vor drei Jahren päppelte Graf bereits ein größeres Rehkitz auf. Es war schwer verletzt gefunden worden, möglichweise hatte es einen Autounfall überlebt. Unter Grafs Obhut erholte sich das Tier und kam in ein Gehege mit Ziegen. Doch zwei Jahre später starb es plötzlich. „Das war schlimm für uns“, erinnert sich die 65-Jährige, die sich zurzeit neben den beiden Rehkitzen um vier Fuchsbabys und zwei Steinmarder kümmert.

„Wir machen seit 40 Jahren Tierschutz, aber Rehe haben wir nur zweimal gehabt.“ Unterstützung erfährt sie von ihrem Mann. Der frühere Chemiker ist mit Graf vor über 40 Jahren aus Bayern nach Tübingen gekommen, um hier zu studieren. Ihr gemeinsamer Sohn lebt heute in Berlin.

Findlinge nicht anfassen

Wie sie mit den Tieren umgehen muss, was sie zu fressen brauchen und worauf man sonst achten muss, hat Graf aus Büchern gelernt, darunter Jürgen Plass’ Ratgeber „Tierfindlinge“. Daher weiß sie zum Beispiel, dass die Kitze pro Tag eine Tasse Maulwurfserde fressen sollen: „Das regt das Wiederkäuen an.“ Maulwurfserde ist generell ein Hinweis auf einen gesunden Boden. Das aus tiefen Erdschichten hervorgebrachte Material ist locker und fein sowie weitgehend frei von Steinen, Wurzeln oder Kleintieren – es ist gewissermaßen Erde pur.

Für Wanderfreunde und alle anderen, die jemals ein junges Wildtier finden sollten, hat Graf wichtige Tipps parat. So sollte man ein alleine aufgefundenes Rehkitz keinesfalls einfach so mitnehmen. Oft komme es nämlich vor, dass die Mutter ihre Jungen für eine Weile irgendwo ablegt. Diese bleiben dort ruhig liegen, da Rehe erst mehrere Wochen nach der Geburt das Fluchtverhalten lernen.

„Auch sollte man das Tier nicht anfassen, außer mit Gummihandschuhen, weil die Mutter die Tiere sonst nicht mehr annimmt“, erklärt Graf. Mutter und Kitz erkennen sich nämlich anfangs am Geruch und erst ab etwa der vierten Woche auch an der Stimme, so Graf. Wer ein verletztes oder scheinbar verlassenes Jungtier findet, sollte am besten den Jagdpächter informieren, rät die Expertin. Archivbild: Sommer

Gluck-gluck-gluck: Mit Vorliebe trinken Paul und Paula warme Ziegenmilch. Bild: Sommer

Gluck-gluck-gluck: Mit Vorliebe trinken Paul und Paula warme Ziegenmilch. Bild: Sommer

Agnes Graf

Agnes Graf

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Erstellt:
21.06.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 50sec
zuletzt aktualisiert: 21.06.2017, 01:00 Uhr

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