Abwrackprämie kommt

Tübinger Gemeinderat beschließt Anreize für den Umstieg auf E-Zweiräder

Stinker mit zwei Rädern sollen mit einer Abwrackprämie aus dem Verkehr gezogen werden. Mit knapper Mehrheit hat der Tübinger Gemeinderat am Dienstagabend beschlossen, mit Geldanreizen den Umstieg auf elektrisch angetriebene Zweiräder zu fördern.

27.07.2016

Von Gernot Stegert

Ältere Zweitakter wie dieser Roller der Marke Simson, hier gestern in der Mühlstraße aufgenommen, stoßen viele Schadstoffe aus. Bild: Metz

Ältere Zweitakter wie dieser Roller der Marke Simson, hier gestern in der Mühlstraße aufgenommen, stoßen viele Schadstoffe aus. Bild: Metz

Tübingen. Bis zuletzt hat Oberbürgermeister Boris Palmer sein Modell einer „Abwrackprämie für fossile Kleinkrafträder“, wie es offiziell heißt, nachgebessert. Noch in der Sitzung des Gemeinderats am Dienstag nahm er Wünsche der Ratsfraktionen auf. Am Ende reichte es zu einer knappen Mehrheit von 19 Stimmen aus AL/Grünen, SPD und Oberbürgermeister zu 16 Stimmen von CDU, Tübinger Liste, FDP und Linken. Zwei CDU-Stadträte enthielten sich.

Damit werden bis zu 500 Euro Umtauschprämie gezahlt, aus einem Topf von insgesamt 25000 Euro. Die Prämie soll nach Umweltschädigung gestaffelt werden: 500 Euro gibt es für ein Zweitaktzweirad, das vor dem Juni 2002 zugelassen wurde. 200 Euro bei einem Alter bis Anfang 2006 (Euro-Norm 3). Keinen Zuschuss erhalten Fahrzeuge, die die Euro-Norm 4 oder mehr erfüllen. Die Prämie wird nur ausgezahlt, wenn der Halter in Tübingen seinen Wohnsitz hat und der Zweitakter schon länger gemeldet ist. Damit sollen Mitnahmeeffekte vermieden werden. Um keine Verwirrungen zu stiften, wurde das Programm auf Anregung der SPD auf Zweitakter konzentriert. Der städtische Umweltbeauftragte Bernd Schott sagte aber, er weise im Einzelfall einen Viertakter ungern ab. Damit nicht einfach Garagen entrümpelt werden, ist das Geld an den Kauf eines E-Zweirades bei einem Händler gebunden – Pedelec, E-Bike oder E-Roller. Auch muss die Verschrottung des Zweitakt-Stinkers nachgewiesen werden, damit das Fahrzeug nicht irgendwohin bloß verkauft wird.

Ein dritter Beschlusspunkt wurde getrennt abgestimmt und ging ohne Gegenstimme bei drei Enthaltungen der Linken durch: der Appell des Gemeinderats an die Bundes- und Landesregierung, eine Plakettenverordnung für motorisierte Zweiräder zu schaffen und die Einfahrt in Luftreinhaltegebiete wie bei PKW zu verbieten.

Zu Beginn und in Antworten auf Fragen und Einwände begründeten Schott und Palmer den Vorstoß. Zwar gebe es keine exakten Zahlen für die Zweitakter. Doch habe die Verwaltung an einem regenfreien Dienstag und Donnerstag Kleinkrafträder in der Mühlstraße zählen lassen. Zwischen 7.30 und 15.30 Uhr wurden 190 motorisierte Zweiräder erfasst. Da Zweitaktmotoren im Bestand der Kleinkrafträder stark dominieren und Zweiräder mit mehr als 125 ccm eine Ausnahme im Stadtverkehr darstellen, lasse sich als konservative Schätzung eine Zahl von 100 Durchfahrten von Zweirädern mit Zweitaktmotor täglich in der Mühlstraße ansetzen. Diese seien aber überproportional schädlich (siehe Infokasten). Die Verwaltung errechnet bei 100 Durchfahrten täglich in der Mühlstraße eine Schadstoffbelastung durch Zweiräder mit Zweitaktmotor, die der Belastung durch 2500 Busfahrten entspricht. Tatsächlich verkehren nur 1500 Busse in der Mühlstraße. Die Zweitakter stoßen laut Verwaltung also mehr Schadstoffe aus als die Stadtbusse.

Christian Mickeler (AL/Grüne) gefielen der Ansatz und die Staffelung: „Je dreckiger, desto mehr Geld.“ Es gehe darum, das Klima zu schützen. Dorothea Kliche-Behnke (SPD) sagte: „Wir wohnen zwar nicht in China, aber die Mühlstraße ist nach dem Stuttgarter Neckartor in Baden-Württemberg die am meisten belastete Stelle.“ Ulrike Ernemann (CDU) erklärte: „Wir stimmen Projekten zu, die für Tübingen maßgeschneidert sind.“ Das sei bei der Abwrackprämie angesichts weniger Zweitakter nicht der Fall. Ernst Gumrich (Tübinger Liste) sagte: „Alte Fahrzeuge sind tatsächlich Dreckschleudern. Es ist nicht zu verstehen, dass der Gesetzgeber nicht handelt. Die Abwrackprämie aber ist ein ungeeignetes Instrument.“ Für so wenige Fahrzeuge sei der administrative Aufwand zu groß. Ähnlich äußerte sich Anne Kreim (FDP).

Gerlinde Strasdeit (Linke) erklärte das Tausch-Programm zum „Spaß für Bessergestellte“, weil nur diese sich ein neues E-Rad zulegen könnten. Palmer widersprach: Auch Pedelecs und gebrauchte E-Fahrzeuge könnten angeschafft werden.

Wie stark schädigen motorisierte Zweiräder die Umwelt?

In der Verwaltungsvorlage heißt es dazu: „Für Kleinkrafträder gibt es Begrenzungen der Schadstoffemissionen erst seit dem Jahr 1999 (Euro 1). Für Stickoxide und Kohlenmonoxid sind diese Werte bis zu 7,5 mal höher als für PKW. Für Feinstaub sieht die ab 2017 geltende Norm für Motorräder (Euro 4) immer noch einen Wert 18-fach höher als für PKW vor. Für Kleinkrafträder gibt es bis heute keine Regulierung der Feinstaubemissionen.“

Eine internationale Forschergruppe um den Schweizer Andre Prevo habe 2014 eine Studie veröffentlicht, nach der auch eine kleine Anzahl von Kleinkrafträdern „dramatische Verschlechterungen der Atemluft“, so die Stadtverwaltung, bewirken kann. „Durch die Funktionsweise des Zweitakt-Motors und den verwendeten Treibstoff setzen diese Motorroller mehr unverbrannte Treibstoffreste frei, außerdem mehr Abbauprodukte von Ölen. Vor allem die organischen Aerosole und die daraus entstehenden Sekundärverbindungen sind eine Quelle für Feinstaub. Obwohl ihr Anteil am Verkehr relativ niedrig ist, sind sie im Extremfall für bis zu 96 Prozent der organischen Abgase in den Straßen verantwortlich. Die Messungen ergaben: Die Motorroller stießen sowohl im Leerlauf als auch beim Fahren zwischen 53 und 771 Mal mehr organische Aerosole aus als andere Fahrzeuge. Auch der Ausstoß an flüchtigen organischen Kohlenwasserstoffen war bei den Motorrollern bis zu 124 Mal höher als bei anderen Fahrzeugen. Und dies obwohl sie der Euronorm 2 entsprachen.“

Dieses Ergebnis stehe im Einklang mit einer Prognose des Umweltbundesamtes, dass in wenigen Jahren die motorisierten Zweiräder trotz eines Anteils an der Verkehrsleistung von nur 3 Prozent für 20 Prozent der Luftschadstoffe verantwortlich sein werden.

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Erstellt:
27.07.2016, 17:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 35sec
zuletzt aktualisiert: 27.07.2016, 17:00 Uhr

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