Kurz vor Weihnachten Frau erwürgt

Sachverständiger: Täter wegen Depression vermutlich vermindert schuldfähig

Im Prozess gegen einen Rottenburger, der kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres seine Frau erwürgt und sich anschließend der Polizei gestellt hatte, sagte gestern der psychiatrische Gutachter: Der 54-Jährige habe unter einer Depression gelitten und sei möglicherweise nur vermindert schuldfähig.

28.06.2016

Von Frank Rumpel

Tübingen. Es war ein Streit über die finanzielle Situation des Ehepaares, der am 23. Dezember vorigen Jahres nach dem Frühstück eskalierte. Am ersten Prozesstag hatte der Angeklagte geschildert, wie er gesagt habe, dass er alles nicht mehr aushalte und sich umbringen wolle. Darauf habe seine Frau geantwortet, dass er sie gleich mitnehmen könne. Da habe er sie gewürgt, den Leichnam zugedeckt und sei nach Horb gefahren, um sich von der Weitinger Autobahnbrücke zu stürzen. Allerdings sei er nicht hinaufgekommen, so dass er unverrichteter Dinge nach Rottenburg zurückkehrte, wo er sich schließlich der Polizei stellte. Nun muss er sich vor Gericht wegen Totschlags verantworten.

Dort sagten gestern eine Tochter des Mannes und ein Sohn der Frau zum Verhältnis der Eheleute untereinander aus: Das Paar sei 20 Jahre zusammen gewesen. Beide hätten Kinder aus früheren Beziehungen gehabt. Das Verhältnis in der Patchwork-Familie sei sehr gut gewesen, so die Tochter des Angeklagten, die Ehe selbst sei „eine Vorbild-Ehe“. Beide hätten sich gut verstanden. „Es war so, wie eine Ehe sein muss. So habe ich das empfunden. Da hat alles funktioniert“, sagte auch ein Sohn der Getöteten. Lebenslustig sei der Angeklagte immer gewesen, habe gern Späße gemacht und mit den Enkeln gespielt. Doch im vorigen Jahr habe sich das fast schlagartig geändert.

Im Januar hatte der Angeklagte, der gestern 54 wurde, einen Bandscheibenvorfall, wurde krank geschrieben. Im April erfuhr er, dass die Möbelfirma, in der er 30 Jahre als Lackierer gearbeitet hatte, schließen würde. „Das war der Knackpunkt“, sagte sein Bruder. Danach sei er psychisch angeschlagen gewesen. Im Mai wollte er sich das erste Mal von der Neckartalbrücke stürzen, was ihm schon damals nicht gelang. Mitten in der Nacht kam er zurück in die Wohnung, in der seine Familie wartete.

„Er war ruhig, hat niemanden angeschaut, hat geweint. Dann hat er uns gesagt, dass er sich umbringen wollte“, erzählte die Tochter. Ab da habe sie gemerkt, dass der Jobverlust ein absoluter Alptraum für ihn gewesen sei. „Danach war er ein anderer Mensch, zurückgezogen, lustlos, traurig. Er wollte nirgends mehr hin“, sagte sie. Den ganzen Tag habe er sich in der Wohnung verkrochen.

Ob seine Frau dies auf Dauer geduldet habe, wollte der Staatsanwalt wissen. „Sie hat immer gesagt, da kommt noch was, und zwar was richtiges“, erzählte die Tochter. Und wenn das passiere, könne er sie gleich mitnehmen, habe die Stiefmutter gesagt. Sie dachte, das sei nur so dahin gesagt. „Aber sie hat Recht gehabt.“ Die beiden Söhne schlossen dies jedoch kategorisch aus, dass ihre Mutter je so etwas gesagt habe. Sie sei immer ein fröhlicher Mensch gewesen, sagte einer. Er sei sicher, dass sie ausgezogen wäre, wenn sich die Situation nicht gebessert hätte.

Das Ehepaar habe getrennte Konten gehabt, erzählte einer der Söhne. Das sei der Mutter wichtig gewesen, weil ihr erster Mann Spieler war. Auch den Angeklagten hatte er im Verdacht, öfters zu spielen. Tatsächlich hatte dieser am ersten Prozesstag erzählt, dass er 2015 bei zwei Casino-Besuchen in Möhringen über 4000 Euro geliehenes Geld verloren habe. Gespielt habe er in der Hoffnung, mit dem Gewinn Bankschulden zu tilgen.

Für eine Spielsucht allerdings fand der Sachverständige Stephan Bork, Leiter der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen, keinen Beleg. „Es ist möglicherweise töricht, in einer finanziell angespannten Situation ins Casino zu gehen, aber nicht pathologisch.“ Viel schwerer wiege, dass der Angeklagte am 22. Dezember vorigen Jahres – und damit einen Tag vor der Tat! – einen weiteren Suizidversuch beging. Dafür setzte er sich in eine mit Wasser gefüllte Duschwanne und warf einen laufenden Föhn hinein. Er bekam jedoch nur einen leichten Stromstoß, der Föhn lief weiter. Der Sachverständige wertete den Zustand des Angeklagten von Mai bis Dezember des vergangenen Jahres als depressive Episode, „die mehr war, als die Reaktion auf widrige Lebensereignisse“.

Der gescheiterte Suizidversuch habe den suizidalen Handlungsdruck verstärkt. Und den habe der Angeklagte einen Tag später auf seine Ehefrau übertragen. Dass sie gesagt habe, er könne sie mitnehmen, hielt Bork für möglich; aber wahrscheinlich sei es nicht so gemeint gewesen. „Aber ich halte das als Auslöser schon für relevant“, sagte der Sachverständige.

Um jemanden zu erwürgen, brauche es mindestens vier Minuten – dies hatte der Gerichtsmediziner am ersten Prozesstag ausgesagt. Ob man in dieser Zeit nicht irgendwann zur Räson komme, wollte das Gericht nun vom Psychiater wissen. „Das würde man sich wünschen“, sagte Bork. Er stufte die depressive Episode beim Angeklagten zur Tatzeit als krankhafte, seelische Störung ein. Das könnte beim Strafmaß eine Rolle spielen.

Info Vorsitzender Richter am Landgericht: Ulrich Polachowski. Beisitzer: Christoph Sandberger und Johannes Munding. Schöffen: Klaus Bucher, Ralf Glaunsinger. Staatsanwalt: Martin Klose. Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs. Sachverständiger: Stephan Bork, Leiter der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen. Urteilsverkündung am Donnerstag

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Erstellt:
28.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 33sec
zuletzt aktualisiert: 28.06.2016, 01:00 Uhr

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