Klinische Genetik in Tübingen hat ihre Spitzenstellung bis heute verteidigt

Pionier beim Entschlüsseln des Erbguts

Vor 50 Jahren entstand in Tübingen bundesweit die erste klinische Genetik. Erbgut-Analysen werden immer wichtiger, um Krankheiten zu behandeln.

02.06.2016

Von MADELEINE WEGNER

Die klinische Genetik in Tübingen ist den Geheimnissen des menschlichen Erbguts auf der Spur. Foto: Uni Tübingen/Berthold Steinhilber

Die klinische Genetik in Tübingen ist den Geheimnissen des menschlichen Erbguts auf der Spur. Foto: Uni Tübingen/Berthold Steinhilber

Tübingen. Angelina Jolie dürfte die prominenteste Patientin sein, die sich aufgrund eines genetischen Befunds für eine Operation entschieden hat. Die Schauspielerin ließ sich in den USA 2013 wegen eines genetisch bedingten erhöhten Krebsrisikos beide Brüste amputieren. Medizinische Genetik zur Diagnostik und Behandlung von Krankheiten zu nutzen, diesem Ziel hat sich das Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen verschrieben.

Bundesweit war es bei seiner Gründung vor 50 Jahren das erste dieser Art: „Als erste Klinische Genetik in Deutschland überhaupt markierte sie einen Wandel der Genetik von einer reinen Grundlagenforschung hin zu einem klinischen Versorgungsanspruch für Patienten“, sagt der frühere Leiter Peter Kaiser, der noch heute am Institut aktiv ist. Am morgigen Freitag feiert das Institut das 50-jährige Bestehen mit einem Festsymposium.

Auf Erlass des Kultusministeriums Baden-Württemberg im Sommer 1966 wurde die Abteilung für Klinische Genetik auf Schloss Hohentübingen gegründet – in direkter Nachbarschaft also zu dem Ort, wo Friedrich Miescher 1869 die Träger der Erbinformationen DNA und RNA entdeckte.

Heute befindet sich das Institut in der Tübinger Frauenklinik. Auch inhaltlich gibt es einige Schnittstellen zwischen Genetik und Gynäkologie: etwa wenn es um unerfüllten Kinderwunsch, vorgeburtliche Fehlbildungen oder bestimmte Tumor-Erkrankungen geht. Doch ist dies nur ein Gebiet von vielen: „Genetik ist das Fachgebiet, das alle anderen verbindet“, sagt Olaf Rieß, der die Abteilung Medizinische Genetik seit 2001 leitet.

Das Institut soll sowohl der Forschung als auch der Patientenversorgung dienen. Die Hälfte der knapp 100 Mitarbeiter ist in der Forschung, vor allem in drei Bereichen: zum einen untersuchen sie neurogenerative Erkrankungen wie Parkinson, Ataxsie, Dystomie und Chorea Huntington, zum anderen erforschen sie die Ursachen geistiger Behinderung. Dazu dient unter anderem ein Projekt mit Kindern in Jordanien, weil es in dem Land besonders viele Verwandtschaftsehen gibt. Schließlich untersuchen die Wissenschaftler, wie Tumore entstehen und wie sie sich behandeln lassen.

Allein im vergangenen Jahr haben Mitarbeiter des Instituts 1560 genetische Beratungen durchgeführt. Bei solchen Gesprächen wird unter anderem anhand einer Stammbaumanalyse geklärt, ob eine Krankheit genetische Ursachen hat. Dabei kann es um Herzerkrankungen, Entwicklungsverzögerungen bei Kindern, um Taubheit, Nierenfehlbildung oder auch um neurodegenerative Erkrankungen gehen. Manchmal sind solche Analysen eher einfach wie etwa bei dem prominenten Beispiel Jolie, manchmal jedoch auch sehr schwierig, wenn es beispielsweise um bestimmte Haut- und Nierentumore geht.

Jeder Ratsuchende hat Anspruch auf solch eine genetische Beratung. „Das ist eine normale Kassenleistung“, sagt Rieß. Eines gibt der Humangenetiker zu bedenken: Im Gegensatz etwa zu einem Bluttest beim Hausarzt muss sich bei einem genetischen Test letztlich der Patient selbst entscheiden. „Das Ergebnis bleibt ein Leben lang. Man muss sich also gut überlegen, ob man das bewältigen kann“, sagt Rieß. Ziel bei der Patientenversorgung sei es auch, die richtigen Spezialisten für die Behandlung zu vermitteln. Grundsätzlich berate ein Team aus Forschern und Ärzten unterschiedlicher Disziplinen sowie Ethiker über Diagnose und Therapie. „Die Expertise von allen ist gebraucht“, sagt Rieß. „Die Medizin hat sich in dieser Hinsicht sehr weiterentwickelt.“

Eine Vorreiterrolle hatte das Institut laut Rieß nicht nur bei dessen Gründung vor 50 Jahren übernommen, sondern die herausragende Position auch bis heute beibehalten. Es war die erste Universitäts-Einrichtung im Land, die modernste Methoden zur Sequenzierung des Erbmaterials eingeführt hat. Außerdem war das Institut maßgeblich 2010 an der Gründung des ebenfalls bundesweit ersten Zentrums für seltene Erkrankungen beteiligt.

Weniger Zuschüsse

Olaf Rieß, der in Tübingen seit fast 15 Jahren die Medizinische Genetik leitet, sieht die Finanzierung von Leistungen im Bereich der Genetik in Gefahr. Ab Juli soll es eine neue Verordnung geben. Die Kostenübernahme werde stark gekürzt. Die Kassenärztliche Vereinigung wolle pro Quartal 1,2 Millionen Euro einsparen. „Ich finde, dies ist ein Skandal“, sagt Rieß. „Die Kasse sieht nur, dass die Kosten zur Zeit steigen, nicht aber, dass sich das langfristig rentieren könnte und dass manche Krankheiten dadurch geheilt werden können.“ Die Genetik sei wesentlicher Bestandteil der Patientenversorgung. Mit solchen Kürzungen drohe eine Zwei-Klassen-Versorgung. ?del

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Erstellt:
02.06.2016, 09:26 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 07sec
zuletzt aktualisiert: 02.06.2016, 09:26 Uhr

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