Schön, dass in Bad Belzig nichts los ist

Nell Zink auf privater Stippvisite in ihrer alten Heimat Tübingen

„Ich habe nicht gedacht, dass du mich noch erkennst“, ist das erste, was sie sagt. Das ist seltsam. Denn sie sieht noch aus wie vor gut zehn Jahren. Damals war sie freie Mitarbeiterin beim SCHWÄBISCHEN TAGBLATT, studierte an der Uni Medienwissenschaften, promovierte über Musikjournalismus. Der erste Entwurf ihrer Dissertation wurde mit der Begründung abgelehnt, sie habe die Gattung verfehlt, es handle sich um einen Roman, nicht um eine wissenschaftliche Arbeit.

25.05.2016

Von Peter Ertle

Nell Zink auf privater Stippvisite in ihrer alten Heimat Tübingen

Tübingen. Ein prophetisches Urteil. Heute ist Nell Zink eine in den USA gefragte Schriftstellerin, die New York Times feierte sie als literarische Entdeckung, ihren Roman „The Wallcreeper“ als Debut des Jahres. Nun ist er auf Deutsch erschienen, „Der Mauerläufer“.

Es geht um die Amerikanerin Tiff, die ihrem frisch vermählten Mann und Vogelbeobachter Stephen in die Schweiz folgt, wo sie sich rasch emanzipiert. Es gibt einiges an Sex und viel Einblick in die deutsche Naturschutzszene, denn der Roman spielt bald in Ostdeutschland. Doch wie meist bei guten Romanen kommt man ihm mit einer Handlungsnacherzählung kein bisschen bei. Es sind die Motive und es ist der Ton, die Art, wie Nell Zink erzählt, diese eigenartig verspielte Genrekreuzung, die das Buch so interessant machen.

Maxim Biller sang im literarischen Quartett eine Hymne auf den „Mauerläufer“. Seine Kollegin Christine Westermann hingegen mochte ihn gar nicht. „Was hat jemand wie Westermann eigentlich in so einer Runde zu suchen?“, fragt die Autorin auf der Bank beim Silcherdenkmal, wo sie ihre Knie an den Körper zieht, kompakt und kleinstmöglich ohne Bodenberührung hockt sie da, der Kleinmädchensitz einer 51-Jährigen.

Zwei Romane von ihr sind in den USA bisher erschienen, den dritten hat sie gerade beendet. Der nächste und vierte soll ein ganz besonderer werden, diesmal will sie sich Zeit lassen, etwas richtig Großes soll es werden. „Wie lange darf ich dafür denn brauchen?“, hat sie kürzlich gefragt. „Zehn Jahre“, antwortete ihre Lektorin. Im Ernst? „Ja, du glaubst nicht, was ich für Vorschüsse bekomme.“ Es klingt, als staune sie immer noch. Und schäme sich ein wenig.

Dann stellt sie ihre Beine wieder auf den Boden, beugt sich vor: „Ist das ein – ? Ich glaube das ist ein Gartenrotschwanz“. Mit ihrer Liebe zu den Vögeln hat es angefangen, mit dem Artikel eines Vogelschützers, den sie übersetzte und dann dem US-Autor, Vogelkundler und, by the way, ehemaligen Tübinger Poetikdozenten Jonathan Franzen schickte. Der Emailverkehr, der sich entspann, beeindruckte Franzen so, dass er sie ermunterte, einen Roman zu schreiben. So entstand, innerhalb weniger Wochen, „The Wallcreeper“.

Irgendwie sind sie sich dann zu nahe gekommen oder nicht nahe genug. Zink und Franzen. „Ich war seine asexuellen Annäherungsversuche einfach leid.“

Nell, was sind denn bitte asexuelle Annäherungsversuche?

„Naja, diese Sorte von Männern, die dir von Anfang an signalisieren, dass da nichts läuft, weil sie gebunden sind. Aber trotzdem wollen sie umschwärmt werden.“

In ihrem neuen Roman „Nicotine“, erzählt sie, komme ein Mann vor, der seine Sexualität mit Alkohol und Nikotin unterdrücke.

Huch. Geht das denn? Nell Zink meint: Ja. Die Figur basiere auf Franzen. Franzen mische Nikotin mit Backpulver und lege es sich zwischen Unterlippe und Zähne, eine Art Kautabak, scheußlich.

Kurz nachdem er das gelesen habe, denn, ja, er bekomme das vor der Veröffentlichung von ihr zum Lesen und gebe auch sein Urteil ab, kurz danach also habe er in einem Interview genau diese Kautabaktechnik ausführlich erklärt. Als wolle er nach Erscheinen des Romans unbedingt darin erkannt werden.

„Aber ich löse mich gerade von ihm.“ Sagt sie. Und dass sie jetzt einen Kaffee vertragen könne.

In Tübingen, erzählt sie auf dem Weg zur Neckarbrücke, sei sie sich oft vorgekommen wie ein Stück unter der Schuhsohle. Weil sie keinen deutschen Pass, dafür aber einen amerikanischen Akzent hatte. Und weil sie Dinge gerne anders machte als andere. „Und wenn man dann noch von Abschiebung bedroht ist.“

Das war sie wirklich. Ein weltfernes Gesetz verlangte damals, dass Studierende aus dem Ausland mach ihrem Studienabschluss ein Einkommen von mindestens 3000 Euro haben müssten, um bleiben zu dürfen. Auf dem Arbeitsamt riet man ihr, sich mit einem Deutschen zu vermählen. Aus Protest machte sie Boris Palmer einen öffentlichen Heiratsantrag:

„Sehr geehrter Herr Palmer, ich würde Sie gern Ende Juli 2009 heiraten. Ich glaube echt nicht, das die Behörde von uns sexuellen Kontakt verlangen würde – bloß die gemeinsame Wohnung. Ich bin schon 45 und habe nie besonders gut ausgesehen, muss sogar z. Zt. eine Zahnspange tragen, also die Ehe aus freien Stücken ist für mich ungefähr so wahrscheinlich wie der dreitausend-Euro-Job.“

Palmer lehnte ab, möglicherweise wegen der Zahnspange. Ihre Rettung war dann die Reutlinger Reportageschule Zeitenspiegel, die sie für ständige Übersetzerdienste unter Vertrag nahm und die 3000 Euro amtlich machte .

Das Schuhsohlengefühl ist glücklicherweise nicht die vorherrschende Tübingen-Erinnerung. Schon in den achtziger Jahren war die in Virginia aufgewachsene, ihren ersten Mann wie ihre Romanfigur schon nach einer Woche gegenseitigen Kennens heiratende, später einige Jahre in Israel lebende Studentin, Popfanzine-Schreiberin und sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durchschlagende Lebenskünstlerin wiederholt zu Sommeraufenthalten hier, schloss Freundschaften. Auch ein Grund, später Tübingen als Studienort und jahrelangen Lebensmittelpunkt zu wählen. Hier habe sie mit ihrem kleinen Einkommen leben können und sei gar nicht weiter aufgefallen. „In den USA“, sagt sie, „wäre ich im Armenghetto gelandet.“

Den heutigen Abstecher nach Tübingen unternimmt sie von einem Literaturfestival in Pforzheim aus. Von da ging es zu einem guten Freund, dem Reporter Wolfgang Bauer nach Reutlingen. Jetzt Tübingen. Im Herbst wird sie wieder kommen, Tübingen, Reutlingen, in diesen Städten wollte sie unbedingt lesen. „Wolfgang meint, dass bei meinem absurden Lebenslauf garantiert 200 Leute kommen, aber der war auch beim arabischen Frühling in Syrien Optimist, also weiss ich nicht so recht.“

Sie schreibt auf Englisch. Auf Deutsch könne sie nicht, jedenfalls keine Literatur. Sie erzählt von den bisherigen Lesungen in Deutschland, und dass sie nach einer halben Stunde Probleme bekomme, sich verspreche. In Leipzig neulich brachte sie ein einfaches deutsches Wort nicht mehr heraus, eine Frau beschwerte sich nach der Lesung, sie kenne Leute, die viel kürzer in Deutschland seien und viel besser Deutsch sprächen.

Städte wie Tübingen mit ihrer Geschichte, der Uni, dem kulturellen Angebot, liefen Gefahr, nur noch auf sich selbst zu schauen und damit provinziell zu werden, sagt Nell Zink. In Bad Belzig, wo sie heute wohnt, sei nichts los. Und das sei gut so. Nur Weite, Nichts, Himmel, die eine Kneipe. Bücher. Wobei, Bücher hat die Tochter einer Bibliothekarin gar nicht so viele. Die sie hat, liest sie lieber immer wieder. Intensitätssteigerung, möglicherweise auch die literarische Variante einer früheren Angewohnheit, in Lebensdingen generell mit möglichst wenig auskommen zu wollen. Sie hat ja nie viel gehabt früher und sie hätte nie gedacht, dass sich das jemals ändern könnte.

In Bad Belzig, erzählt sie, gebe es ein älteres Paar, mit dem sie sich angefreundet habe. Sie betrieben ein Privatmuseum. Der Mann sei unglaublich belesen. Er lese beispielsweise eine Seite aus einem zeitgenössischen deutschen Roman vor, danach zitiere er eine Passage aus einer Kleistschen Prosa, auswendig. Und danach, sagt Nell Zink, stehe der zeitgenössische deutsche Roman aber so was von schlecht da. Solche Leute seien das. So sei das in Bad Belzig. Außerdem: Eine halbe Stunde zum Freund und eine Stunde nach Berlin – auch das sei gut.

„Ich glaub’, bis mein Zug kommt, geh ich noch ein bisschen ins Käsenbachtal, da ist es schön schattig“, sagt sie zum Abschied. Es ist der erste heiße Sommertag. Die Vögel singen.

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Erstellt:
25.05.2016, 01:30 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 44sec
zuletzt aktualisiert: 25.05.2016, 01:30 Uhr

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