Evangelisches Stift

Keimzelle im alten Kloster

Das Evangelische Stift in Tübingen war ein zentraler Ausgangspunkt für die Reformation in Württemberg – und diente der staatlichen Neuordnung.

12.06.2017

Von FABIAN ZIEHE

Früher war das Tübinger Stift eine elitäre Männerwelt für sich. Heute wohnen dort auch Frauen und Nicht-Theologie-Studierende. Foto: epd

Früher war das Tübinger Stift eine elitäre Männerwelt für sich. Heute wohnen dort auch Frauen und Nicht-Theologie-Studierende. Foto: epd

Tübingen. Gewartet hat auf die Reformation kaum einer in dem 4000-Seelen-Städtchen. Tübingen ging es gut, man baute Wein an, gerbte Leder, handelte Tuch. Seit 1477 war man Unistadt. Studenten und Gelehrte brachten Geld mit. Alles gut. Doch nun, 1534, kehrte dieser Ulrich von Württemberg zurück, den der Schwäbische Bund 15?Jahre zuvor noch verjagt hatte. Er brachte die Ideen Luthers mit. Und er krempelte das Herzogtum um??

Das hat viel mit diesem Bau zu tun. Von oberhalb der frühen Stadtmauer aus, wo Volker Henning Decoll steht, sieht es stolz, ja, mächtig aus. Doch der 48-jährige Theologe erklärt unumwunden: „Das war mal eine ziemlich bescheidene Klitsche.“ Er kann das sagen, er ist Kirchenhistoriker und „Ephorus“, also Chef dieses evangelischen Stifts, in dem derzeit 156 Stipendiaten leben. Vor 500 Jahren war der Ursprungsbau, von dem heute nur Weniges zeugt, ein Eremitenkloster, gebaut auf einem „billigen Randgrundstück“. Und das 1536 von Ulrich gegründete Stift, das Knaben das Theologiestudium finanzierte, brauchte 1547 eine neue Herberge – in der Burse nebenan herrschte Platznot.

Das Stift wurde zur Kaderschmiede. „Württemberg war eine klassische Reformation von oben“, sagt Decoll. Die Reichsstädte ringsum hatten zwar großes Interesse an den neuen Ideen aus Wittenberg. Doch die Eliten im Herzogtum waren gut katholisch. „Tübingen war Hort der Altgläubigen“, sagt Stadthistoriker Udo Rauch. Ulrich schaffte sich mit der neuen Konfession diese alten Widersacher vom Hals. Und er bekam direkten Zugriff – gerade auf die Städte und Klöster.

Wobei er vorsichtig sein musste: Der Habsburger Kaiser, mit dessen Gnade nur er sein Territorium zurückholen durfte, blieb katholisch. „Insofern war die Reformation für Ulrich auch ein Problem“, sagt Decoll. Zumal die Eliten grollend gingen. Der Unikanzler etwa zog nach Rottenburg – und nahm das Siegel der Alma Mater mit.

Ein „erheblicher Personalabfluss“ einerseits, die Chance auf moderne Strukturen anderseits, weltlich wie kirchlich. Das zeigt Decoll im Speisesaal. „Hier hat man die große Communität gepflegt.“ Hier aß man zusammen, hier studierte man – an Tischen nach Jahrgängen getrennt. Ein jeder saß, wo er der Leistung nach hingehörte. Wo auch immer man später seinen Dienst verrichtete – von dort kannte man sich.

Disziplin und Frömmigkeit

Decoll bleibt vor dem Ölgemälde von Herzog Christoph stehen. Dieser hatte 1559 in der „Großen Kirchenordnung“ die Reformation im Land festgeschrieben – mitsamt des Stifts. Von Tübingen aus also wurde künftig der protestantische Glaube in alle Winkel des Herzogtums getragen.

Die Studenten kamen von den Klosterschulen Maulbronn, Blaubeuren und Urach, dort galten sie als die Besten der Besten. Im Stift herrschten Disziplin und Frömmigkeit. Zwei Jahre studierte man Philosophie, drei weitere Theologie. „In der Stadt waren die Stiftler immer in einem Habit unterwegs, sie haben sich von der Stadtbevölkerung deutlich abgehoben“, sagt Rauch.

Was nicht bedeutete, dass mancher nicht bockte, ja, aufbegehrte – und sich später ganz profan einen Namen machte. Die Liste von Philosophen, Schriftstellern, Gelehrten, Politikern mit Stift-Vergangenheit ist lang. Mancher hat einige Tage oben unter dem Dach des Stifts zugebracht, im Karzer – Inschriften zeugen heute noch davon. Letztlich also hat das Stift nicht nur theologisch, sondern auch wissenschaftlich und kulturell Württemberg geprägt.

Zwei Mal in seiner Geschichte war das Stift gefährdet: im Dreißigjährigen Krieg und im 18. Jahrhundert, als die Karlsschule in Stuttgart zur Konkurrenz heranwuchs. „Da stand Tübingen zur Disposition“, sagt Decoll. Doch hat das Stift alle Zeitläufte überstanden – auch indem es Vielfalt duldete wie die Spannungsfelder zwischen Lutheranern, Reformierten, Liberalen, Pietisten?... „Das trifft hier im Stift wie im Brennglas zusammen“, sagt Decoll. Er sieht das symbolisch für die Vielschichtigkeit der Württembergischen Landeskirche – bis zum heutigen Tag.

Friedrich Hölderlin: Eine Zeitlang auf der „Galeere der Theologie“. Foto: Fabian Ziehe

Friedrich Hölderlin: Eine Zeitlang auf der „Galeere der Theologie“. Foto: Fabian Ziehe

Wurde kein Pfarrer: Friedrich Hegel. Foto: Fabian Ziehe

Wurde kein Pfarrer: Friedrich Hegel. Foto: Fabian Ziehe

Stiftsbewohner Johannes Keppler, der berühmte Astronom. Foto: Fabian Ziehe

Stiftsbewohner Johannes Keppler, der berühmte Astronom. Foto: Fabian Ziehe

Berühmte Bewohner

Einige berühmte Persönlichkeiten waren Stipendiaten. Johannes Kepler (1571-1629) etwa lebte von 1589 an fünf Jahre im Tübinger Stift. Da er am Ende aber das von württembergischen Pfarrern geforderte Bekenntnis nicht unterschreiben wollte, wurde er eben ein berühmter Mathematiker und Astronom.

Ebenfalls kein Pfarrer wurde aus Friedrich Hölderlin (1770-1843), der auf der „Galeere der Theologie“ in Tübingen unterwegs war. Der Schriftsteller starb geistig umnachtet einige Jahrzehnte später nur wenige Meter weiter neckarabwärts im „Hölderlin-Turm“.

Sein Kommilitone war – neben Schelling – auch Friedrich Hegel (1770-1831). Der Philosoph, der maßgeblich den deutschen Idealismus prägte, empfand die Zeit im Stift als bedrückend. Auch er trat nicht den Pfarrdienst an.

Anders als Albrecht Goes (1908-2000), der zwar nur rund ein Jahr im Stift lebte, dann aber in Berlin das Theologiestudium abschloss und Pfarrer wurde. Er brachte es als Schriftsteller, Friedensaktivist und Theologe zu bundesweitem Ansehen.

Diese und weitere „Stiftsköpfe“ (Schelling, Mörike und Strauß) zieren den Innenhof. ?zie/Fotos: Fabian Ziehe

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Erstellt:
12.06.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 12.06.2017, 06:00 Uhr

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