Eiszeitkunst

Fund des Jahres: Ist das Pferd vielleicht ein Löwe? Oder ein Bär?

Mehr als 20 Jahre lang galt das erste aus der Welterbe-Höhle Hohle Fels geborgene Elfenbeinkunstwerk als Pferd – bis Archäologen einen neuen Fund machten.

27.07.2023

Von ST

Die Tierfigur von links vorne. Foto: Ria Litzenberg / Uni Tübingen

Die Tierfigur von links vorne. Foto: Ria Litzenberg / Uni Tübingen

Bei Ausgrabungen in der Welterbe-Höhle Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb nahe Schelklingen haben Archäologen kürzlich einen Teil einer sorgfältig geschnitzten Elfenbeinfigurine geborgen, das einem der bekanntesten Eiszeitkunstwerke ein neues Äußeres verleiht: Das Figurenfragment hat sich als Stück eines Körpers entpuppt, das perfekt an einen bereits vor mehr als 20 Jahren gefundenen Tierfigurenkopf passt. Der 1999 geborgene Kopf war als erste im Hohle Fels gefundene Elfenbeinfigurine berühmt geworden. Bislang hatte die Wissenschaft ihn als Teil einer Pferdefigur interpretiert.

Diese Bewertung stellt das Team von Prof. Nicholas Conard aus der Abteilung Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen nun in Frage: „Wir können die dargestellte Tierart immer noch nicht sicher bestimmen, aber es könnte ein Höhlenlöwe oder ein Höhlenbär sein“, so Conard am Donnerstag zum „Fund des Jahres“. Eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu der Figur, deren Teile in Schichten der altsteinzeitlichen Kultur des Aurignacien geborgen wurden und die vor 35.000 Jahren geschnitzt worden war, erscheint in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg, herausgegeben vom Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg.

Das Figurenfragment in Fundlage in Hohle Fels 2022 Foto: Alexander Janas / Uni Tübingen

Das Figurenfragment in Fundlage in Hohle Fels 2022 Foto: Alexander Janas / Uni Tübingen

Conard selbst hält das Kunstwerk aus der jüngeren Altsteinzeit für eine Bärenfigur: „Die Figurine hat nun einen massigen Körper, zeigt den typisch ausgeprägten Bärenbuckel in Schulterhöhe und präsentiert sich in einer Körperhaltung, die den trottenden Gang eines Bären nachahmen könnte.“ Es gebe aber auch Kollegen, die der Figur anatomische und physiognomische Eigenschaften eines Höhlenlöwen zuschrieben, räumt Conard ein: „Es ist keineswegs immer einfach, eiszeitliche Darstellungen verbindlich zu bestimmen, besonders wenn sie so bruchstückhaft erhalten sind. Daher bleibt es sinnvoll, in den kommenden Jahren besonders aufmerksam nach den fehlenden Teilen dieses Tiers zu suchen.“

Tatsächlich ist die Tierfigur mittlerweile aus fünf Fundfragmenten zusammengesetzt, die in unterschiedlichen Grabungsjahren geborgen wurden: Auf den 1999 gefundenen Kopf, der im Halsbereich abgebrochen war, konnte kurz darauf unter den Elfenbeinfunden ein kleines Stück der Backe identifiziert und angepasst werden. So wurde der Fund gut 20 Jahre lang im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren (Urmu) ausgestellt.

Die Tierfigur von rechts vorne. Foto: Ria Litzenberg / Uni Tübingen

Die Tierfigur von rechts vorne. Foto: Ria Litzenberg / Uni Tübingen

Der aktuelle Elfenbeinfund, der 3,99 Zentimeter lang, 2,49 Zentimeter hoch und 0,55 Zentimeter dick und auf einer Seite mit mehreren feinen, bewusst gravierten Linienmustern versehen ist, wurde kurz nach der Ausgrabung als rechte Schulter und Brustkorb des Tieres erkannt und angefügt. Dies ließ die Forschenden unter den zahlreichen Elfenbeinfunden aus dem Hohle Fels nach weiteren Teilen der Figurine suchen. Mit Erfolg: Ein weiterer kleiner Teil der rechten Körperseite konnte anhand seiner Gravuren ausfindig gemacht werden. Dieser kleine, an die Figur angesetzte Rumpfteil trägt wie die anderen Stücke sehr feine Linien in der gleichen Ausführung, die eindeutig beweisen, dass die Zusammensetzungen stimmig sind. Sehr wahrscheinlich gehört überdies noch ein weiteres Fragment zu der Figur: Es könnte ein Teil des linken Vorderbeines sein, welches aber nicht mit dem restlichen Körper unmittelbar verbunden werden kann.

Grabungsübersicht in Hohle Fels. Foto Nicholas J. Conard / Universität Tübingen

Grabungsübersicht in Hohle Fels. Foto Nicholas J. Conard / Universität Tübingen

Die ergänzte Elfenbeinfigurine ist nun wieder nach Blaubeuren zurückgekehrt, wo sie für die Öffentlichkeit ausgestellt wird. „Diese Figur zeigt uns und unseren Besuchern wie keine andere, dass die archäologische Arbeit niemals abgeschlossen ist“, sagt Stefanie Kölbl, geschäftsführende Direktorin des Urmu, das zugleich Zweigmuseum des Archäologischen Landesmuseums und Forschungsmuseum der Universität Tübingen ist. So werden im Nachbargebäude des Museums die Funde aus dem Hohle Fels in kleinteiligster Arbeit ausgelesen. „Es ist faszinierend, die Ausgräber dort mit Lupe und Pinzette bei ihrer Arbeit zu sehen“, so Kölbl, „und noch faszinierender, dabei festzustellen, dass über diese lange, lange Zeit irgendwie nichts verloren zu gehen scheint, und wir hoffen dürfen, diese Figur irgendwann vervollständigen zu können.“

Urgeschichtliches Museum Blaubeuren

Das Urmu liegt inmitten der Steinzeithöhlen, die von der Unesco 2017 zum Welterbe „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“ ernannt wurden. Das Museum für altsteinzeitliche Kunst und Musik in Baden-Württemberg und Forschungsmuseum der Uni Tübingen erklärt das eiszeitliche Leben der Jäger und Sammler am Rand der Schwäbischen Alb vor 40.000 Jahren. Prominentestes Exponat ist das Original der „Venus vom Hohle Fels“.

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Erstellt:
27.07.2023, 19:02 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 03sec
zuletzt aktualisiert: 27.07.2023, 19:02 Uhr

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