Sommer mit Gänsen

Folge 3: Das Weideleben (mit Morgengymnastik und tiefen Schnattertönen)

Wie verläuft ein Gänseleben? Was passiert in der kurzen Zeit von der Geburt bis zum Tod eines solchen Nutztieres? In einer kleinen Serie begleiten wir eine Gänseherde auf dem Sophienhof in Lustnau.

19.09.2016

Von Jessica Sabasch

Gänse, Gänse, Gänse, inzwischen ganz schön groß, rechts „Gänsemutter“ Alexandra Luik.Bild: Sabasch

Gänse, Gänse, Gänse, inzwischen ganz schön groß, rechts „Gänsemutter“ Alexandra Luik.Bild: Sabasch

Sieben Uhr. Ein gänsefrischer Morgen auf dem Lustnauer Sophienhof. Die Herde watschelt dicht an dicht in Richtung Weide, wo taubenetzte Grashalme glitzern. Federflaum segelt in der Luft und landet sacht auf dem Boden. Als hätte jemand ein Kopfkissen ausgeschüttelt. Kein Märchen, Mauser! Mal 223.

Das vordere Wiesenstück ist schon ziemlich abgemäht. Besonders Rotklee und Luzerne fressen die Gänse gern. Weiter hinten verschwinden sie noch im hohen Gras. „Ich mag diese Morgenstimmung“, sagt Alexandra Luik und blinzelt unter ihrem dunkelgrauen Filzhut mit Gänsefedern ins Weite. Da legen sich müde Gänse nochmal hin und ruhen in kleinen Gruppen im Schatten einer Reihe Apfelbäume. Spielwütige Gänse knabbern an Baumrinden. Muntere Gänse nehmen ein Bad in der eigens dafür aufgestellten Badewanne. Wenn sie ihre Flügel aufspannen, sieht es aus, als ob sie gleich abheben. Aber sie wissen nicht, wie es geht. Sie hatten keine Eltern, die es ihnen zeigten. „Als in unserem ersten Gänsejahr im Herbst Nilgänse über die Weide flogen, habe ich kurz befürchtet, dass sie sich das Fliegen von ihnen abgucken könnten“, erzählt Alexandra Luik. Aber so schnell gehe das natürlich nicht mit dem Fliegenlernen. Und vielleicht sprechen Nilgänse und die Weißen Dänen der Luiks ja eine ganz andere Sprache.

17 Halswirbel für

den Rundumblick

Auf der Wiese zanken streitlustige Gänse jetzt um Falläpfel. Es gibt ein großes Geschnatter in mehreren Tonlagen: Den lockeren Smalltalk, bei dem die Hälse weit nach vorn gereckt werden und die Schnäbel aufgeregt zittern. Man kommt nicht umhin, an den tollpatschigen Donald Duck zu denken, wenn man sie so wichtig watscheln und wettern sieht. Das Schreien und Jammern, wenn sie sich bedroht fühlen, scheint aus einer anderen Halsregion zu kommen. Insgesamt sind die Schnattertöne viel tiefer geworden. „Das Stimmorgan, die Trompete hat sich ausgebildet“, sagt Alexandra Luik. „Es stimmt wirklich, dass Gänse die besten Wachhunde sind.“

Als der Regionalzug durchs Neckartal rauscht, werden kurz die Hälse gereckt. 17 (!) Halswirbel ermöglichen den Gänsen einen Rundumblick nach allen Seiten. Als klar ist, dass keine Gefahr droht, widmen sie sich schnell wieder der Gefiederpflege, die zugleich wohl auch so eine Art Morgengymnastik ist. Wie weiß gewaschen stecken sie ihre Köpfe ins Gefieder. Nur die Bäuche sind noch etwas schmutzig von der Nacht im Stall. Dort sind sie sicher vor Füchsen. Tagsüber auf der Weide schützt sie ein Elektrozaun.

„Licht anlassen“ steht mit Filzstift geschrieben drinnen an der Wand. Das Gänselicht brennt die ganze Nacht. In einer Ecke des Stalldachs hat sich eine Schwalbenfamilie eingenistet. Alexandra Luik schätzt die selbstbestimmte Arbeit auf dem Hof, die Ruhe, das Draußen-Sein, den Kontakt zu den Tieren. „Ich könnte mir ein Leben als Bäuerin gut vorstellen.“ Hauptberuflich ist sie Chefin der Fleischtheke im Marktladen Vogelbeerweg. Die Gänse sind ihr Sommergeschäft, gemeinsam mit ihrem Mann Dieter kümmert sie sich um die Tiere. Zum Martinstag und an Weihnachten wird das Fleisch in ausgewählten Geschäften und ab Hof verkauft.

Die Teilzeit-Gänsebäuerin füllt einen großen Eimer Getreide in die Futterrinne. Die Mischung aus eigenem Bioland-Anbau riecht wie Müsli. „Fehlt nur noch die Milch“, lacht sie. Und bekommt dabei selbst ein bisschen Hunger. Jetzt in der Erntezeit komme ihr Mann erst vom Feld, wenn sie schon beim Frühstück sitzt, erzählt sie. Hauptsächlich Roggen und Weizen hat Dieter Luik die letzten Tage und Nächte mit den Kollegen vom Rottenburger Hofgut Martinsberg eingeholt. „Die Getreidequalität ist gut dieses Jahr. Die Menge hätte mehr sein dürfen“, sagt Alexandra Luik. „Während der Ernte sehe ich Dieter manchmal 48 Stunden lang nicht.“

Die Gänse abends in den Stall zu bringen, klappe nicht immer reibungslos. „Als sie klein waren, sind sie Dieter noch hinterhergelaufen, jetzt sind sie Teenager, hören nicht mehr auf uns“, sagt sie. Im letzten Herbst habe sie mal eineinhalb Stunden gebraucht, die Gänse in den Stall zu treiben. „Am Zaun standen belustigte Radfahrer, die zuschauten, wie ich mit Stock und Besen herumspringe.“

An den Kragen

geht es sowieso

Nachdem sie mit einer großen Schaufel frischen Dinkelspelz auf dem Boden verteilt hat, ist der Stall schlaffertig. „Bald ist im Stall unten Sankt Martin, und oben Weihnachten“, sagt Alexandra Luik. Nach ihrem Sommerurlaub wird die Herde getrennt. Im Stall und auf der Weide. Es geschehe ganz gezielt, eine spätere Trennung der Gänse sei wegen ihres ausgeprägten Sozialverhaltens nicht mehr möglich. Und – was vielen Weihnachtsgans-Liebhabern vielleicht nicht bewusst ist – jede Aufregung und Veränderung kann zu Gewichtsverlust der Tiere führen. Aus Trauer verweigern sie oft tagelang die Nahrungsaufnahme.

Zum Glück wissen die Gänse nicht, was am Ende des Sommers passiert. Sehr jetzt-versunken halten sie ihre Köpfe in den Wind. Was Menschen von Gänsen lernen können: Keine Angst vor der Zukunft haben. An den Kragen geht es uns sowieso.

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Erstellt:
19.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 30sec
zuletzt aktualisiert: 19.09.2016, 01:00 Uhr

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