Nach Brand in Reutlingen

Mord-Ermittlungen gegen Heimbewohnerin: Legte sie das Feuer?

Eine 57-jährige Bewohnerin, die selbst schwer verletzt wurde, könnte das Feuer im Reutlinger Fachpflegeheim gelegt haben. Minister Manfred Lucha warnt am Brandort vor reflexartigen Forderungen.

18.01.2023

Von Thomas de Marco, Moritz Hagemann

Bild: Jonas Bleeser

Bild: Jonas Bleeser

Schon einen Tag nach dem Brand mit drei Toten in einem Reutlinger Fachpflegeheim für psychiatrische Hilfe hegen Polizei und Staatsanwaltschaft einen Verdacht: Legte eine 57-jährige Bewohnerin, die selbst schwer verletzt wurde, das Feuer? Davon gehen die Ermittler bislang aus. Gegen die psychisch erkrankte Frau wird wegen des Verdachts des dreifachen Mordes und elffachen Mordversuchs ermittelt. In ihrem Zimmer ist das Feuer nach ersten Erkenntnissen ausgebrochen. Das geht aus einer Pressemitteilung hervor. Die Tatverdächtige, die noch am Brandort intubiert werden musste und sich aufgrund ihrer Verletzungen in einer Spezialklinik befindet, ist außer Lebensgefahr, aber noch nicht ansprechbar.

Experten der Spurensicherung sowie Sachverständige des Landeskriminalamtes gehen davon aus, dass die 57-Jährige das Feuer am Dienstag gegen 19.40 Uhr in ihrem Zimmer in einer der Wohngruppen im Obergeschoss gelegt haben könnte. Es spreche momentan nichts für einen technischen Defekt als Grund für den Ausbruch, sagte der Erste Tübinger Staatsanwalt Nicolaus Wegele dem TAGBLATT. Noch völlig unklar ist das Tatmotiv der Bewohnerin. „Da gibt es nichts, was wir vermelden könnten“, sagte Wegele.

Eine Untersuchungshaft komme aufgrund der psychischen Erkrankung der Frau nicht in Frage. Stattdessen prüft die Staatsanwaltschaft, inwiefern der Gesundheitszustand der Tatverdächtigen eine einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zulässt. Sollte es zu einem Gerichtsprozess gegen sie kommen, müssten Gutachter prüfen, ob sie schuldunfähig ist. Laut Wegele „gibt es Anhaltspunkte“, dass das der Fall sein könnte, aber zum jetzigen Zeitpunkt sei es zu früh für eine gesicherte Aussage dazu.

„Das Land trägt Trauer“

Als Landes-Sozialminister Manfred Lucha am Tag nach dem Brand den Reutlinger Unglücksort besuchte, war von diesem Verdacht noch nichts bekannt. „Das Land trägt Trauer, wir sind erschüttert ob des Unglücks“, sagte er – und dankte den Rettungskräften: „Sie haben durch ihr schnelles Eingreifen Schlimmeres verhindert.“

Vom TAGBLATT auf Forderungen für einen besseren Brandschutz mit Sprinkleranlagen angesprochen, sagte Lucha: „Wir sollten allen Reflexen der Schuldzuweisung widerstehen.“ Eugen Brysch, Vorsitzender der Stiftung „Patientenschutz“, hatte erklärt, bei 140 Bränden in Alten- und Pflegeheimen im vergangenen Jahr seien in Deutschland 16 Bewohner umgekommen: „Das zeigt überdeutlich, wie schlecht es hierzulande in der Pflege um den vorbeugenden Brandschutz bestellt ist.“

Mehrere Tote nach Brand in Reutlinger Fachpflegeheim

Am Dienstagabend (17. Januar 2023) kam es zu einem Brand in einem sozialpsychiatrischen Fachpflegeheim in der Reutlinger Oberlinstraße.
/
Unter anderem war Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) am Mittwoch am Brand...
Unter anderem war Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) am Mittwoch am Brandort in Reutlingen, um der Toten zu Gedenken. Bild: Horst Haas

© ST

Bild: Horst Haas
Bild: Horst Haas

© ST

Am Tag nach der Katastrophe war das Medieninteresse riesig. Bild: Horst Haas
Am Tag nach der Katastrophe war das Medieninteresse riesig. Bild: Horst Haas

© ST

Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Thomas de Marco
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser
Bild: Jonas Bleeser

„Brysch hätte besser erstmal Trauer und Betroffenheit ausdrücken sollen, bevor er so eine Meldung raushaut“, ärgerte sich Lucha in Reutlingen. „Wollen wir in einem Metallkästle leben, um alle Risiken auszuschließen?“, so die rhetorische Frage des Ministers. Und er verwies auf die besondere Situation in der Reutlinger Fachpflege: „Wir kämpfen dafür, dass diese Menschen mit Unterstützungsbedarf Normalität in ihr Leben bekommen, ohne Stigmatisierung. Dann haben wir aber auch nicht alles in der Hand. Wer von uns hat eine Sprinkleranlage überm Bett?“

„Brandschutz hat funktioniert“

Hier in Reutlingen habe der Brandschutz funktioniert. Zudem gebe es in Deutschland durch vorsorgenden Brandschutz immer weniger solcher Ereignisse mit Toten. „Wir sollten keine Spekulationen führen, sondern jetzt alles genau anschauen und dann gegebenenfalls unsere Schlüsse ziehen.“

Auch Reutlingens Feuerwehrkommandant Michael Reitter wies voreilige Forderungen zurück. „Eine Sprinkleranlage braucht auch Zeit, bis sie anschlägt. Das Brandschutzkonzept im Gebäude hat gegriffen und eine wirksame Rettung ermöglicht.“ Ähnlich äußerte sich Dietrich Knobloch, am Dienstag Einsatzleiter der Reutlinger Feuerwehr und bei ihr zuständig für vorbeugenden Brandschutz: „Ich habe große Erfahrung und bin mir nicht sicher, ob eine Sprinkleranlage etwas geändert hätte.“

Für Irritationen hatten in der Brandnacht Äußerungen gesorgt, die Türen zu den Wohngruppen wären verschlossen gewesen. Doch die Bewohnerinnen und Bewohner waren nicht eingesperrt. „Von innen lassen sich die Türen öffnen, nur nicht von außen wegen der Privatsphäre“, sagt Prof. Gerhard Längle, Geschäftsführer der Gemeinnützigen Gesellschaft für Gemeindepsychiatrie Reutlingen (GP.rt), die das Heim betreibt.

Auf die Frage, warum einige Bewohnerinnen und Bewohner wohl in ihren Zimmern geblieben waren, antwortete Regierungspräsident Klaus Tappeser: „Wir wissen das nicht. Aber oft ist es besser, im Raum zu bleiben als auf den Flur zu gehen, wo Durchzug herrscht.“

Während diese Fragen erörtert und die Erklärungen abgegeben wurden, untersuchte die Kriminalpolizei den Brandort. Mit einem Ergebnis, das dieses Unglück schlagartig in ein anderes Licht gerückt hat.

Lesen Sie auch: Eine Rauchgasvergiftung endet schnell tödlich: Nach dem Reutlinger Brand sprach das TAGBLATT darüber mit dem Landesfeuerwehrarzt.

Verletzte außer Lebensgefahr

Nachdem die Beteiligten in der Nacht zum Mittwoch auf einer Pressekonferenz noch erste Informationen zum Brand in dem Fachpflegeheim gegeben hatten, konkretisierte die Polizei wenig später die Angaben: Eine 53-Jährige sowie zwei Männer im Alter von 73 und 88 Jahren kamen ums Leben. Zudem sind die beiden Schwerverletzten, von denen der Leitende Notarzt zunächst berichtete, außer Lebensgefahr. Dazu zählt die nun tatverdächtige 57-Jährige. Zudem gab es elf Leichtverletzte, die alle vorsorglich auf eine Rauchgasvergiftung untersucht worden sind. Zum Zeitpunkt des Brandausbruchs um 19.43 Uhr befanden sich nach Polizeiangaben 37 Bewohnerinnen und Bewohner sowie fünf Pflegekräfte im Gebäude. In die nicht betroffenen Bereiche konnten die Bewohner inzwischen zurückkehren, der Rest ist unbewohnbar. Die Polizei geht von Schaden in sechsstelliger Höhe aus.

Zum Artikel

Erstellt:
18.01.2023, 14:45 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 34sec
zuletzt aktualisiert: 18.01.2023, 14:45 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Wirtschaft: Macher, Moneten, Mittelstand
Branchen, Business und Personen: Sie interessieren sich für Themen aus der regionalen Wirtschaft? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Macher, Moneten, Mittelstand!