Sport, wie er im Buche steht

Die „Tübinger Thestrale“ sind das Quidditch-Team der Uni-Stadt

Im Harry-Potter-Universum ist Quidditch Volkssport Nummer eins. Jetzt eifern Tübinger Studenten ihren Romanhelden nach. Ein Besuch beim Freundschaftsspiel.

04.06.2016

Von Text: Kathrin Löffler Bilder: Uli Rippmann Videos: Jonas Bleeser

02.06.2016 Quidditch in Tübingen: Thestrale gegen Dragons
© Bleeser 02:34 min
Es ist wahrscheinlich die erste Feldsportart, die es aus Buchseiten heraus auf den Rasen der realen Welt geschafft hat: Quidditch. Gespielt wird es auch in Tübingen.

Finde den Fehler: Ein Bolzplatz beim Tübinger Freibad, die Sonne scheint, Zuschauer fläzen unter Kastanienbäumen, Menschen in zweierlei Trikots jagen einander die Wiese rauf und runter. Zwischen den Beinen der Spieler klemmen glitzrig-bunte Kunststoffstangen.

Was nur auf einen sehr flüchtigen Blick aussieht wie Fußball, ist eigentlich: Quidditch. Und noch eigentlicher: Fiktion. Eine gewisse Joanne K. Rowling hat sich das ausgedacht. In ihren Romanen spielt es Zauberlehrling Harry Potter mit seinen Kumpels. Dabei reiten, nein, fliegen sie auf Besen. Jetzt spielen es auch Tübinger Mittzwanziger. In echt. Aber ohne echte Besen. Und fantasieloser Naturgesetze wegen: zu Fuß. Klingt schwer nach Freizeitspaß für Nerds. Ist aber, doch, doch: Sport.

Quidditch-Mutterland sind die USA. Amerikanische Studenten übersetzten das literarische Ballspiel 2005 in ein reales und schrieben ein 200 Seiten langes Regelwerk. Mittlerweile wird das Besenreiten an den Highschools mit genauso ernsthaftem Ehrgeiz wie Basketball betrieben. Die International Quidditch Association gründete sich und lädt regelmäßig zu World Cups, zunächst nur in Amerika. Teils kamen 10 000 Zuschauer. In Deutschland ist Quidditch noch arg randständische Randsportart. Aber das ändert sich gerade. Vor allem im studentischen Umfeld der Unistädte fanden sich in den letzten zwei, drei Jahren immer mehr Teams zusammen. Einen Ligabetrieb gibt es noch nicht. Aber für die Weltmeisterschaft am 23. und 24. Juli bekam Frankfurt den Zuschlag.

Quidditch auf Tübinger Rasen: Die Thestrale beim Freundschaftsspiel gegen Passau.

Quidditch auf Tübinger Rasen: Die Thestrale beim Freundschaftsspiel gegen Passau.

Die Tübinger Quidditchszene wurde maßgeblich von Georgina Siriwardena mobilisiert. Sie studiert eigentlich im englischen Exeter und kam dort zum Besensport. Zur Zeit verbringt sie einen Erasmus-Aufenthalt in Tübingen. Bei ihrer Ankunft bestanden die Quidditch-Aktivitäten am Neckar aus einer lahmliegenden Facebook-Gruppe. Siriwardena organisierte Ausstattung, Spielfeld, einen wöchentlichen Trainingstermin. Die neue Mannschaft benannte sich nach den Thestralen. Aus Einschüchterungsgründen, vermutlich. In der Zauberlehrlingswelt heißen so die laut einer Spielerin „ziemlich gruseligen“ Skelettpferde. Das war im vergangenen Herbst. Inzwischen trauen sich die Tübinger zu, in Freundschaftsspielen gegen andere Mannschaften anzutreten.

Samstagmittag, besagter Bolzplatz, großes Hallo. Die Passauer sind da. Ein eingespielter Haufen seit April 2014. Die „Three River Dragons“ haben jüngst Freundschaftsspiele gegen München, Würzburg und Wien bestritten. Im Januar lernten sich Schwaben und Niederbayern als Besucher der Deutschen Quidditch-Meisterschaft in Darmstadt kennen. Man verabredete sich zum Kräftemessen.

Teambesprechung, diszipliniertes Warmlaufen in Reih und Glied, Schweißstirnbänder aufziehen, auf geht‘s. Und wer nun nicht firm im Jungmagierkosmos ist, kapiert genau: gar nichts. Rot-schwarze (Tübingen) und grün-schwarze (Passau) Frauen und Männer rennen über den Platz, links und rechts stehen jeweils drei Ringe (das sind die Tore), zehn Punkte gibt’s pro Wurf ins Ziel, drei Bälle sind im Spiel (Drei! Auf einmal! Mit Absicht!), es wird geworfen, gepasst, gefangen, Oberschenkel und eine Hand immer schön am Pseudo-Besen, es ist ein einziges Gewusel. Jedenfalls in den Augen Nichteingeweihter. Beobachter mit Lektüre-Vorwissen werfen nach einer Weile Spielanalysen wie „Tübingen geht unter!“ und „Tübingen reißt hier mal gar nichts!“ in den Raum. Ach?

02.06.2016 Quidditch in Tübingen: Wie geht das eigentlich?
© Bleeser 01:53 min
Wer zum ersten Mal ein reales Quidditch-Spiel sieht, ist so verwirrt wie Harry Potter an seinem ersten Tag in Hogwarts: Alles passiert gleichzeitig, und keiner erklärt es einem. Der Goldene Schnatz klärt auf.
Dafür können die Gastgeber bereits auf eine amtliche Fankultur zählen. Die sechs, sieben Mitglieder der „Tübinger Todesser“ haben sich am Spielfeldrand aufgebaut und liefern beharrlichen Support. Mit martialischen Fangesängen wie „Auf geht‘s Tübingen, fliegen und siegen!“, „Bambule, Randale, Tübinger Thestrale!“ oder „Schiri, wir wissen, wo dein Besen steht!“ brüllen sie den Gegner quasi an die Wand. Von Passau kommt lediglich ein bemühtes „Mach das Ding!“. Welche Qualifikationen muss man als, ähem, Quidditch-Ultra mitbringen? Lukas Schädler weiß es: „Trinken wollen, sich reinsteigern und irgendwas mit Harry Potter anfangen können.“

Hilft aber nichts. Passau führt. Dann sind 17 Minuten um. Zeit für den Schnatz. Im Buch ist das ein golfballgroßes gelbes Etwas mit Flügeln. Im Tübinger Frühsommer ist es Mattis Scherrer, der sich gelb angezogen hat. Der 21-Jährige beschreibt seine Rolle so: „Ich muss die Sucher eines jeden Teams von meinem Popo fernhalten.“ Bitte? Scherrer hat sich eine rosarote Socke ans Hinterteil gebunden. Da drin steckt ein Tennisball. Den sollen die beiden sogenannten Sucher – jede Mannschaft hat einen – an sich bringen. Gelingt es einem von ihnen, hagelt es auf der Stelle jede Menge Punkte und das Spiel ist aus. Sieht dann so aus: Ein sehr gelber Mensch rennt rückwärts mitten durch das laufende Spielgeschehen, ihm hinterher hechten und purzeln und rangeln zwei Menschen auf Besen und grapschen nach seinem Allerwertesten. Sollte das noch nicht deutlich geworden sein: Ja, Quidditch hat durchaus Unterhaltungswert.

Einmal beherzt an den Hintern grapschen: Der Passauer Sucher sichert sich den Schnatz-Ball.

Einmal beherzt an den Hintern grapschen: Der Passauer Sucher sichert sich den Schnatz-Ball.

Scherrer ist Gaststar aus Heidelberg. An der dortigen Uni ist Quidditch offizielle Hochschulsportdisziplin. Er selber hat Harry Potter „nicht wirklich“ gekannt, als er damit anfing. Erst als aktiver Quidditch-Athlet hat er sich über wenige Bücher, Hörbücher und Filme die Vorgeschichte draufgeschafft. Er sagt: „Es gibt sogar Quidditch-Spieler, die Harry Potter ganz doof finden.“ Also ist Quidditch keine besonders außergewöhnliche Form von Fanverhalten – sondern ganz gewöhnliche Körperertüchtigung? Scherrer relativiert: „Der Normalfall ist schon, dass die Spieler totale Harry-Potter-Freaks sind.“

Ein bisschen wirkt Quidditch wie das kreative So-tun-als-ob von Zwölfjährigen. Statt Besen tragen die Feldspieler selbstgebastelte PVC-Stöcke. Statt übers Feld zu schweben, müssen sie rennen. Das richtige Spiel findet nur in der Fantasie statt. Quidditch verlangt Einbildungskraft. Aber durchaus auch: Kondition. Eine Runde dauert keine halbe Stunde, es geht hoch und runter, zackzack, nichts mit lang Ballbesitz und locker traben und das Spiel mal langsam machen. Hier wird Cardio-Training pur veranstaltet. „Quidditch ist taktisch und von der Ausdauer her anspruchsvoll“, sagt Studentin Franziska Koch. Die Frau muss es wissen. Bevor sie zum Besensport überlief, spielte sie Handball. Die Harry-Potter-Bände hat sie übrigens alle gelesen. Teamkollegin Georgina Siriwardena schwört: „Man muss wirklich fit sein.“

Aber das Hineinfantasieren in das lustige Kinderbuch-Universum hat ein klein wenig auch gesellschaftpolitische Dimension. Mädchen spielen mit Jungen. Wer die Aktiven nach den Vorzügen ihres Sports fragt, bekommt das Argument Gendergerechtigkeit häufig noch vor dem Spaßfaktor zu hören. Thestrale-Spielerin Vita Bellchambers findet etwa, Quidditch sei mit seinen gemischten Teams moderner als Fußball.

Für Tübingen ist der Käse aber erst einmal gegessen. Passaus Sucher erbeutet den Schnatz-Ball. Fetter Punktenachschlag für die Gastmannschaft, aus und vorbei. Alles steht still und beklatscht und drückt sich und den Gegner.

Wer sich am Rande sportlicher Wettkämpfe für Dinge wie Endergebnisse begeistern kann, kriegt nun allerdings ein Problem. Sicher ist: Tübingen hat verloren. Wie hoch genau? 180 zu 10 sagen die einen, 150 zu 10 die anderen, allgemeines Schulterzucken, die Spieler trollen sich vom Feld, wozu sich mit Zahlen herumschlagen? Ein Picknick im Schatten, Kuchen für alle und Gelegenheit zum Socializing scheinen für Thestrale und Dragons die dringlicheren Alternativen. Am Abend wird noch gegrillt.

In Form: Die Tübinger Todesser unterstützen ihre Mannschaft. Bedingungslos.

In Form: Die Tübinger Todesser unterstützen ihre Mannschaft. Bedingungslos.

Also weiter fragen. Schiedsrichterin Jenny Krafczyk zum Beispiel. Aber, tja: „Den Endstand weiß ich auch nicht.“ Da müsse sie erst mal bei den Schriftführern nachhaken. Die lümmeln aber gerade noch sehr entspannt im Gras am Spielfeldrand. Krafczyk klärt auf: Sie hat eigentlich gar keine Schiedsrichter-Qualifikation vom Quidditch-Dachverband. Mit ihrer Kollegin ist sie spontan eingesprungen und aus Freiburg angereist. Die vorgesehene Schiri-Truppe musste kurzfristig absagen. Jawohl, Truppe. Eigentlich verlangt so ein Quidditch-Match stolze sieben Unparteiische: Eigene Zuständige für Schnatz und Tore und Zeit und das ganze komplizierte Ballgeschehen. „Quidditch geht wahnsinnig schnell, man kann gar nicht alles sehen“, sagt Krafczyk.

Irgendwann steht fest: Passau siegt mit 120 zu 10. Interessiert bloß niemanden. Die Geschlagenen sagen Sätze wie „Es ist okay, wenn man verliert“, „Quidditch macht immer Spaß“, die Stimmung sei freundlich, die Community super, und überhaupt. In Wirklichkeit ist der Besensport eben vor allem Szenetreffen für Gleichgesinnte. Wird die nächste Spielrunde halt in bayerisch-schwäbisch durchmischten Teams angetreten. Gewinnen: eher mäßig wichtig. Aber auch nicht ganz egal. Als unambitioniertes Kuschelevent sollte man sich so ein literarisch inspiriertes Freundschaftsspiel nicht vorstellen. Siriwardena analysiert die Tübinger Niederlage: Das Team sei noch jung, die Spieler noch nicht aggressiv genug. „Wir haben erst vor drei Wochen begonnen, Tackling zu trainieren.“

Eine sehr schöne Multimedia-Geschichte über Quidditch und die Deutsche Meisterschaft hat Johannes Kolb für Campus-TV gemacht. Sie erklärt auch noch dem letzten Muggle, wie die neue Sportart funktioniert.

Faktenwissen zum Besensport

Ohne Rute: Im literarischen Original spielen die Romanfiguren Quidditch auf fliegenden Besen. Im echten Leben muss ein Stiel ohne extra Reisigbündel dran genügen. Der darf nur mit der Kraft der Oberschenkel oder einer Hand festgehalten werden.

Das ist ein Foul: In der laufenden Partie vom Besen steigen ist verboten. Mit kaputtem Besen spielen geht auch nicht.

Nur nicht so zimperlich: Quidditch ist eine Vollkontakt-Sportart. Tackling ist erwünscht.

Keine 11 Freunde müsst ihr sein: Beim Quidditch treten sieben gegen sieben an.

Jäger, Beater, Hüter, Sucher: So heißen die unterschiedlichen Spielpositionen. Jäger versuchen, Bälle durch Ringe zu werfen und Punkte zu machen. Beater schmeißen auf die Gegner, um sie aus dem Spiel zu nehmen. Hüter verteidigen die eigenen Ringe – im Prinzip wie ein Torwart. Und die Sucher verfolgen den sogenannten Schnatz, um Extra-Punkte einzuheimsen.

Boomsport: Beim ersten Quidditch World Cup in den USA traten zwölf Mannschaften an. Das war 2008. Drei Jahre später spielten bereits 96 Teams um den Titel.

Fast global: Die International Quidditch Association bündelt zur Zeit 18 Nationalverbände. Der Sport verzeichnet etwa in Russland, Indien oder Peru mehr und mehr Zulauf. Nur in Afrika liegt der Quidditch-Sport noch brach.

Ein Spiel dauert keine 90 Minuten: Die kürzeste Quidditch-Partie dauerte drei Sekunden, die längste drei Monate – jedenfalls in der literarischen Überlieferung.

Der Ferrari unter den Fluggeräten: Die fiktiven Zauberschüler schwören bei ihrem Sport auf richtige Rennbesen. Etabliert haben sich etwa die Modelle Komet, Sauberwisch oder Nimbus.

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Erstellt:
04.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 57sec
zuletzt aktualisiert: 04.06.2016, 01:00 Uhr

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