Baby-Klamotten auf Taille geschnitten

Die Soziologin Marion Müller forscht über Geschlechterrollen, die nicht nur im Sport betont werden

Im Sport, sagt Marion Müller, gehe es immer auch darum zu zeigen, dass Frauen anders sind als Männer. Für die Soziologin mit Schwerpunkt Geschlechterforschung sind deshalb Fußballstadien und Leichtathletik-Arenen ein ergiebiges Terrain. Weitere Alltagsbeobachtungen, die in ihr Forschungsfeld fallen, sind Überraschungseier und Mutter-Kind-Kurse.

17.05.2016

Von Angelika Bachmann

Marion Müller (42) wurde zum Sommersemester auf den Lehrstuhl „Soziologie mit Schwerpunkt Geschlechterforschung“ an der Uni Tübingen berufen. Bild: Metz

Marion Müller (42) wurde zum Sommersemester auf den Lehrstuhl „Soziologie mit Schwerpunkt Geschlechterforschung“ an der Uni Tübingen berufen. Bild: Metz

Tübingen. Die Soziologenbrille kann Marion Müller im Alltag nur schwer absetzen. Sie will es wohl auch gar nicht. Denn als Wissenschaftlerin ist es ihre Aufgabe, „die soziale Wirklichkeit angemessen zu analysieren“. Und da einem die Wirklichkeit wirklich überall begegnet, kann auch alles ein potenzielles, interessantes Forschungsfeld sein.

So ist es zum Beispiel mit dem Sport. „Ich war schon in fast allen Fußballstadien in Deutschland, sagt die 42-Jährige. Dabei findet sie Fußball an sich gar nicht so interessant. Dafür um so mehr die Rahmenbedingungen und die Geschichte, wie er zum angeblichen Männersport wurde. „Die Exklusion der Frau geschah erst im 20. Jahrhundert“, erklärt Müller. In England zum Beispiel habe um 1900 der Frauenfußball einen Boom erlebt – bevor der Dachverband bestimmte: Mitgliedervereine dürfen keine Frauen mehr auf ihren Plätzen kicken lassen. In Deutschland wurden die Frauen („ausgerechnet!“) nach dem „Wunder von Bern“ in den 50er Jahren von den Vereinsplätzen verbannt. Erst auf Druck der Europäischen Gemeinschaft wurde das Verdikt in den 70er Jahren aufgehoben.

Der Sport sei in der Soziologie bislang völlig unterschätzt, sagt Müller, deren Arbeitsgebiet sich dabei nicht auf die Geschlechterdifferenzierung beschränkt. Auch Behinderungen und Nationalitäten gehören zu den gravierenden Grenzen, mit denen im Sport Reviere markiert werden, manchmal vereint sich das auch alles. Manche Regulierungen seien dabei „an Absurdität nicht zu überbieten“, findet Müller. Weil es im Sport immer darum gehe, dass Frauen und Männer anders seien, werde diese Grenzziehung besonders strikt angewandt. Auch in Fällen, in denen das schwierig bis unmöglich ist, etwa bei Frauen mit Hyperandrogenismus, einer angeborenen Überproduktion von männlichen Geschlechtshormonen. Bei einem Verdachtsfall (wie etwa bei der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya) werden die Athletinnen jetzt einer Untersuchung unterzogen. Dabei geht es zum Beispiel um Körperbehaarung, was Müller absurd und demütigend findet.

Sollte es tatsächlich Betrugsabsichten geben, lassen sich Bärte, Rücken- und Schamhaare heutzutage ohnehin dauerhaft kosmetisch entfernen. Auch für weitere untersuchte Kategorien (Intensität des Schweißgeruchs oder Körpermuskulatur) gebe es andere einleuchtende Erklärungskategorien neben der Geschlechtszugehörigkeit.

Was wird wichtig genommen? Was soll einen Unterschied machen? Hat der Schwimmer Michael Phelbs mit einer Armspannweite von 204 Zentimetern nicht auch einen unfairen Wettbewerbsvorteil? Oder ein Läufer, dessen Muskeln wegen einer Mitochondrienstörung von Natur aus eine höhere Energieleistung erbringen können? Diese Sportler würden ja auch nicht disqualifiziert, obwohl ihre Leistung nicht allein auf Training basiert.

„Die Wirklichkeit ist nicht zufällig so wie sie ist“, resümiert Müller deshalb eine der Grundregeln, die sie ihren Studenten zusammen mit dem theoretischen Rüstzeug und analytischen Fähigkeiten vermitteln will. Eine zentrale Aufgabe der Forschung bestehe darin herauszufinden, wo die Geschlechterdifferenzierung heute noch Relevanz hat und wo nicht.

Auch hier gibt der Alltag wunderbare Anregungen für interessante Forschungsfelder. „Was genderadäquates Verhalten ist, das lernt man heute sehr früh.“ Das wird der Soziologin immer wieder bewusst, wenn sie etwa in der Kinderabteilung Klamotten für ihren Sohn kauft. In der Rosarot-Abteilung stößt man dort auf Baby-Kleidchen, die auf Taille geschnitten sind. „Welches Baby hat eine Taille?“ Später im Sport lernt man dann zum Beispiel mit Sätzen wie „Du wirfst wie ein Mädchen“, dass es da prinzipielle Unterschiede geben soll. Auch das „Gender-Marketing“ sei auf dem Vormarsch. Nur ein Beispiel aus dem Kinder-Regal: Neben dem eigentlichen Überraschungsei gebe es jetzt auch ein Überraschungsei für Mädchen – womit zudem klar gemacht sei, was als Norm definiert werde. Nämlich nicht das Mädchen-Ü-Ei.

Seit April hat Marion Müller den Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Geschlechterforschung inne. Zuvor lehrte sie drei Jahre lang als Juniorprofessorin in Trier. Müller ist damit Nachfolgerin der Soziologie-Professorin Regine Gildemeister, auch wenn ihr Lehrstuhl einen etwas anderen Zuschnitt hat.

Pläne hat Müller einige, nicht alle sind schon spruchreif. Was sie aber brennend interessieren würde – auch das ein Ausfluss privater Beobachtung – ist das „Phänomen der Re-Traditionalisierung“, das bei vielen Frauen mit dem ersten Kind einsetze. In Deutschland und Österreich sei es besonders ausgeprägt, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes nicht mehr in ihren Job zurückkehren, sich in traditionelle Rollenbilder fügen und ihre eigenen Bedürfnisse völlig hinter die ihrer Kinder zurücksetzen, obwohl sie zuvor 30 Jahre lang selbstbestimmt gelebt haben. „Und plötzlich ist man dann in der Pekip-Gruppe.“ Die Grenzen dieses Lebensmodells erfahren viele Frauen nicht zuletzt, wenn sie nach einer Scheidung wieder selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen – und es auf dem Arbeitsmarkt denkbar schwer haben.

„Da muss irgendwann irgendwas passieren, eine Art von Gehirnwäsche“, sagt Müller. Warum diese Re-Traditionalisierung in Deutschland so stark ist, darauf gebe es bislang immer noch keine befriedigende Antwort. „Seit 30 Jahre forscht man an diesem Thema herum, kann es in Zahlen fassen aber immer noch nicht erklären.“

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Erstellt:
17.05.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 28sec
zuletzt aktualisiert: 17.05.2016, 01:00 Uhr

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