Vom Militär ausgebremst

Der frühere Reutlinger Ruben Neugebauer rettet Flüchtlinge aus Seenot

Früher saß Ruben Neugebauer im Reutlinger Jugendgemeinderat. Jetzt will er übers Mittelmeer fliegen und sinkende Flüchtlingsboote sichten. Nur spielt das tunesische Militär nicht mit.

14.09.2016

Von Kathrin Löffler

Darf nicht abheben – jedenfalls nicht im Leichtflugzeug Richtung libysche Küstenregion: Ruben Neugebauer. Bilder: Sea Watch

Darf nicht abheben – jedenfalls nicht im Leichtflugzeug Richtung libysche Küstenregion: Ruben Neugebauer. Bilder: Sea Watch

Reutlingen. Den Tod kennt er gut. Neulich sah er 15 Erstickte auf einmal. Sie lagen unter Deck eines Holzbootes. Während Rettungskräfte sie in Leichensäcke stopfen mussten, feierten Geborgene auf dem Sea-Watch-Schiff, dass sie weiter auf der Welt sein durften, sangen, tanzten. Sterben und Leben, sagt Ruben Neugebauer, liegen auf dem Mittelmeer nah beieinander.

Neugebauer, 27, hat Sea Watch mitgegründet, 2014 war das. Der Verein hat ein Dutzend organisierende Mitglieder, 100 Aktive und sitzt in Berlin. Sein Handlungsraum sind aber die EU-Außengrenzen. Auf zwei Schiffen sind Sea-Watch-Crews vor der libyschen Küste unterwegs, um nach Europa Fliehende vor dem Ertrinken zu retten.

Piloten überblicken

mehr als Kapitäne

Laut der Internationalen Organisation für Migration sind 2016 auf den 300 Kilometern Seeweg von Libyen zur italienischen Insel Lampedusa bisher rund 2700 Menschen ums Leben gekommen. Neugebauer weigert sich, sie als Unfallopfer zu bezeichnen. Denn diese Vokabel kennt keine Täterschaft. Neugebauer will aber Schuldige benennen. Für ihn sind das: die EU, die Europäer, er selbst. Und für ihn sind die Leichen im Mittelmeer strategisch produzierte Leichen: „Das ist ein gewolltes Sterbenlassen, weil man mit den Toten andere abschrecken will.“ Die Europäische Union schotte sich ab, zwinge die Leute, auf Booten ihr Leben zu riskieren, solle legale Einreisewege erlauben. Neugebauer trennt da nicht zwischen abstraktem Politapparat und Individuum: „Ich als Europäer bin mitverantwortlich, dass Probleme entstehen.“

Diese Sicht treibt ihn selber aufs Meer. Seit dem vergangenen Jahr ist er als ziviler Seenotretter für Sea Watch im Einsatz. Anfangs auch in der Ägäis, mittlerweile auf der Hauptfluchtroute zwischen Libyen und Italien. Dort fahren sie, erzählt Neugebauer: die mickrigen Schlauchboote aus Billigplastik und die schrottigen Holzkähne, auf denen sich hunderte Aneinandergepferchte in der Hoffnung auf ein besseres Leben gegenseitig zu Tode quetschen. Wenn Sea-Watch-Aktive so ein Boot im Ausguck oder auf dem Radar ihres Schiffs entdecken, schicken sie ihre Schnellboote mit Schwimmwesten hin. In Absprache mit der Rettungsleitstelle in Rom vermitteln sie die Flüchtlinge an Handelsschiffe, Schiffe der italienischen Küstenwache oder Schiffe anderer NGOs (Nichtregierungsorganisationen), damit diese sie nach Italien bringen.

Nach eigenen Angaben hat Sea Watch in diesem Jahr auf diese Weise 15 000 Menschen gerettet. Neugebauer will mehr. Er will die Flüchtlingsboote noch schneller sehen, auf dem Radar erkennt man sie so schlecht, er will sie vor ihrem Auseinanderbrechen finden und mit weniger bereits Dehydrierten und Dahinsiechenden darauf. Neugebauer will in die Luft. Vom Flugzeug aus könnte man in kürzester Zeit das komplette Einsatzgebiet überblicken.

Sea Watch kaufte also ein Ultraleichtflugzeug. Das war mit 70 000 Euro verhältnismäßig billig, der Verein finanziert sich komplett aus Spenden. Es kann sieben Stunden ohne Unterbrechung am Himmel bleiben und im Notfall an einem Fallschirm hängen, das macht einen Flug übers Wasser nicht zu einem Harakiri-Unternehmen. Außerdem darf Neugebauer es selbst fliegen: Die entsprechende Lizenz hat er im Frühjahr extra gemacht. Ende Juni steuerte er das Ultraleichtflugzeug über die Alpen und Italien bis auf einen kleinen Sportflughafen auf der tunesischen Insel Djerba. Die ideale Basis, keine Stunde entfernt vom Einsatzgebiet vor Libyens Küste. Soweit der Plan. Denn dort steht das Ding nun. Und darf nicht mehr abheben. Die zivile Luftbehörde hat Sea Watch ihr Okay gegeben. Problem: Es benötigt auch noch eine Genehmigung vom tunesischen Militär. Auf einmal, sagt Neugebauer. Davon sei vorher nie die Rede gewesen. Täglich fragen die Sea-Watch-Leute nach. Aber beim Militär will niemand ihre Flugpläne unterschreiben. „Die wollen verhindern, dass wir da fliegen“, sagt Neugebauer. Er glaubt, dass auf „die“ politischer Druck ausgeübt werde. Von wem? „Vielleicht von der EU.“

Im August griff Plan B. Sea Watch startete mit anderen Piloten Flugeinsätze von Malta aus. Per zweimotoriger Chartermaschine. Mit dem Leichtflugzeug geht es nicht, für solche Kleinflieger ist der Weg von Malta aus zu weit. Für Sea Watch ist das insofern blöd, weil das Chartern sehr viel mehr ins Geld geht. Neugebauer hofft dennoch, dass der Verein für die Herbstmonate erneut eine Maschine mieten kann: wenigstens überhaupt fliegen.

Ruben Neugebauer ist gebürtiger Reutlinger, er war Einstein-Gymnasiast und Jugendgemeinderat. Inzwischen lebt er in Berlin. Karriere hat er nicht gemacht: Das klänge zu sehr nach eigennütziger Erfolgsorientierung statt nach Neugebauers durch und durch altruistischem Habitus. Neugebauer ist einer, der sein ganzes Dasein einer moralischen Verpflichtung unterwirft: Freizeit, Beruf, Berufung. Er ging auf Anti-Kriegs-Demos und protestierte gegen Castor-Transporte, engagierte sich für Greenpeace, studierte Geochemie und arbeitete als freier Journalist, schrieb über und fotografierte Fluchtrouten in Syrien und Afghanistan, abgeschobene Familien im Kosovo und kollektive Alternativlandwirtschaft, wurde kurzzeitig in der Südost-Türkei inhaftiert, gerade macht er seinen Master in Katastrophenmanagement. Ohne beharrlichen Glauben an die Anpassungsfähigkeit der Wirklichkeit an die eigenen Ideale ist das vermutlich nicht durchzuziehen. Neugebauer sagt: „In wenigen Jahrzehnten wird es uns absurd vorkommen, dass wir Menschen aufgrund ihrer Herkunft an elementaren Grundrechten gehindert haben.“

Der frühere Reutlinger Ruben Neugebauer rettet Flüchtlinge aus Seenot
Der frühere Reutlinger Ruben Neugebauer rettet Flüchtlinge aus Seenot

Sea Watch im franz. K

Am Freitag, 16. September, kommt Ruben Neugebauer ins Kulturzentrum franz.K. Um 20 Uhr hält er dort einen Vortrag über die Rettungseinsätze von Sea Watch auf dem Mittelmeer. Er zeigt auch Videos. Ab 22 Uhr ist Charity-Party. Das DJ-Kollektiv Bunte Klänge macht dazu elektronische Musik: Deephouse, Techhouse und Techno. Dabei sind Marc de Pulse und M.A.N.D.Y., die sonst auch gerne in der Kategorie Ibiza-Club auflegen. Der Eintritt zur Party kostet 15 Euro. Sämtliche Erlöse bekommt Sea Watch.

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Erstellt:
14.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 48sec
zuletzt aktualisiert: 14.09.2016, 01:00 Uhr

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