Anpfiff · Leichtathletik in der Krise

Der Fisch stinkt vom Kopf her

30.01.2016

Von Bernhard Schmidt

Es ist noch nicht lange her, da haben Leichtathleten mit dem nackten Finger auf die untragbaren Zustände im Weltfußball und in deren Dachorganisation Fifa gezeigt. Nach den Erkenntnissen der vergangenen Wochen und Monate werfen die Leichtathleten mit Steinen im Glashaus. Denn auch der Welt-Dachverband der Leichtathletik, die IAAF, gerät fast täglich mit neuen Ungeheuerlichkeiten in die Schlagzeilen. Der Verbandsvorsitzende Lamine Diack wird beschuldigt, Doping-Betrug und Erpressung gebilligt, staatlich gefördertes Doping russischer Leichtathleten vertuscht zu haben. Die französische Justiz ermittelt wegen des Verdachts der Geldwäsche und Bestechlichkeit. Und dass es bei der WM-Vergabe an Katar und Eugene nicht mit rechten Dingen zuging, vermutet auch Helmut Digel, lange selbst Mitglied in der Exekutive und im Council der IAAF. Er spricht im nebenstehenden Interview von „Kriminellen“, fordert, dass die Organisationsform auf den Prüfstand gehöre. Ganz aktuell: Adidas, einer der Hauptsponsoren, will die Kooperation mit der IAAF beenden. Womit dem Verband jährlich 7,4 Millionen Euro in der Kasse fehlen.

Das Image der Leichtathletik hat ohne Zweifel schwer gelitten – nicht erst in den vergangen Monaten. 2014 legten Wissenschaftler eine Studie vor, die systematisches Doping in der BRD von 1970 bis 1990 dokumentieren, ein Jahr später deckte eine russische Mittelstrecklerin auf, dass in der heimischen Leichtathletik offensichtlich systematisch gedopt wird. Der Imageverlust der olympischen Kernsportart schlägt bis zu den Vereinen durch. Auch hier: Nicht zuletzt weil Sponsoren ihr Engagement beendeten, musste die LAV Stadtwerke Tübingen den Großteil ihrer Spitzenathleten ziehen lassen.

Die Schlagzeilen der vergangenen Wochen beunruhigen auch die Top-Athleten aus der Region. „Man hat’s zwar schon vermutet, aber das ist nun wirklich ein extremer Skandal“, sagt Stefan Hettich, Mittelstreckler vom TSV Gomaringen. Solche Schlagzeilen seien natürlich nicht gut für die Sportart. Und für Hettich, der mittelfristig auch durchaus das Potenzial für internationale Einsätze hat, ist jeder Doping-Fall einer zu viel: „Das hat natürlich einen faden Beigeschmack, wenn man davon ausgehen muss, dass die ganz vorne vielleicht nachgeholfen haben.“

Kann man angesichts dieser Zustände Nachwuchskräfte noch ruhigen Gewissens für den Leistungssport trimmen? Funktionär, Trainer oder Athlet – wer mit Leib und Seele für die Leichtathletik in der meist ehrenamtlichen Verantwortung steht, weiß zu differenzieren, trennt die breite Basis von denen da oben. Natürlich sei es schade, dass die Leichtathletik in ein derart schlechtes Licht geraten sei, sagt Isabelle Baumann, Trainerin bei LAV Stadtwerke Tübingen und Mutter einer auch schon international erfolgreichen Athletin. „Die Arbeit im Nachwuchsbereich ist so toll und erfüllend. Da ist der internationale Maßstab und der Weltverband noch ganz weit weg.“ Und selbst wenn ein Talent in die erweiterte Weltklasse vorstoße, könne es, ohne die Frage nach Doping überhaupt zu erwägen, immer noch entscheiden: „Was investiere ich, was traue ich mir zu, was kann ich selbst erreichen?“

Korruption und Doping sei natürlich oft im Spiel, wenn’s um viel Geld gehe, sagt Claus Claussen, der neue LAV-Vorsitzende, einst Leiter der Radiologie am Universitätsklinikum. Mit der LAV-Basisarbeit habe das aber nichts zu tun. Die Leichtathletik, das heißt die Grunddisziplinen Laufen, Springen und Werfen, seien vor allem im Sinne von Prävention und Gesundheit hilfreich, sagt der Mediziner: „Die ureigenen Bewegungsformen des Menschen kann man Kindern und Jugendlichen nicht früh genug nahebringen.“ Wer einmal die positive Wirkung verspürt habe, bleibe auch im fortgeschrittenen Alter der Leichtathletik treu, beuge Herz- und Kreislauferkrankungen – oder gar, wie neueste Forschungen ergaben, Demenz vor.

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Erstellt:
30.01.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 47sec
zuletzt aktualisiert: 30.01.2016, 01:00 Uhr

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