Max-Planck-Institut

Der Darm – ein Mikrokosmos

Der Mensch könnte ohne Bakterien nicht überleben. Doch was genau machen diese Mikroorganismen in unserem Innersten? Das erforscht die Max-Planck-Direktorin Ruth Ley.

06.10.2017

Von Angelika Bachmann

Jeder Mensch trägt Billionen von Bakterien in seinem Darm. Was sie dort tun – und welche Folgen das für den Körper hat – ist das Forschungsgebiet von Ruth Ley. Seit 2016 forscht die US-Amerikanerin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Bild: MPI/derphotograph.de

Jeder Mensch trägt Billionen von Bakterien in seinem Darm. Was sie dort tun – und welche Folgen das für den Körper hat – ist das Forschungsgebiet von Ruth Ley. Seit 2016 forscht die US-Amerikanerin am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Bild: MPI/derphotograph.de

Wer sich mit Ruth Ley unterhält, wird das Leben mit anderen Augen sehen. Selten wird einem so deutlich gemacht, dass man nicht allein auf dieser Welt ist. Nein, niemand existiert nur so für sich. Jeder Mensch ist besiedelt von Billionen von Bakterien, die einen ein Leben lang begleiten. Der Großteil davon hat
es sich im Darm gemütlich gemacht. „Und wenn sie nicht da wären, hätten Sie ein Problem“, sagt Ruth Ley.

Während des Gesprächs zeichnet die 47-Jährige mit Begeisterung Skizzen auf ein Papier: von Darmwänden und Schleimhäuten, von Bakterien, die daran beteiligt sind, dass Nahrung im Darm in einzelne Bestandteile zerlegt wird. Von Immunzellen, die sich durch die Darmschleimhaut schädliche Bakterien greifen, von fettleibigen und dünnen Mäusen und von Bifidobakterien – einer Bakterienart, die in der Regel schon bei Säuglingen vorkommt. Der Darm eines erwachsenen Menschen hat eine Oberfläche von etwa 32 Quadratmetern. Und was dort vor sich geht, ist so komplex, dass man Ruth Ley die Begeisterung darüber ansieht: Es ist ein wunderbar vielfältiger Mikrokosmos, den es zu erforschen lohnt!

Denn man weiß noch sehr, sehr wenig darüber, welche Bakterien in welchen Kompositionen im menschlichen Darm zusammenleben oder warum das Mikrobiom – die Gesamtheit dieser Bakterien – bei jedem Menschen anders ist. Welche Bakterien gibt es im Darm? Und was machen sie dort? – Zwei Fragen, an denen derzeit Tausende von Forschern arbeiten.

Eines hat die Wissenschaft mittlerweile erkannt: Dass das, was im Mikrobiom passiert, vom Darm ins Blut, an den Körper und die Organe weitergegeben wird und so das menschliche Leben, das allgemeine Wohlbefinden und die Tagesform, Gesundheit und Krankheit in erheblichem Ausmaß beeinflusst. Die Mikrobiomforschung zählt deshalb derzeit zu den boomenden Wissenschafts- und Medizinzweigen. Weshalb die Max-Planck-Gesellschaft 2016 Ruth Ley auf die frei werdende Direktorinnen-Stelle am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie berufen hat.

Die Fragen, die im „Ley-Lab“ bearbeitet werden, berühren den Alltag vieler Menschen. Zum Beispiel: Laktoseintoleranz. Welche Bedeutung hat die genetische Veranlagung? Auch für die Darmmikrobiota? Welche Rolle spielen spezielle Bakterien – wie etwa Bifidobakterien? Und welche anderen Bakterien sind wichtig bei
der Verdauung von Milchzucker (Laktose)?

Mensch und Milchvieh

Dabei müssen die allermeisten Säugetiere, wenn sie den Babyjahren entwachsen sind, nie wieder Laktose verarbeiten, sagt Ley. Ihr erwachsener Organismus ist für diesen Verdauungsprozess deshalb nicht ausgestattet. In einigen Teilen der Welt, etwa in Westeuropa, aber auch in einigen Regionen Afrikas oder Asiens hat der Mensch aber vor 15000 Jahren begonnen, sich Tiere und Milchvieh zu halten. Seither trinkt er Kuhmilch oder Stutenmilch. So einschneidend war diese Veränderung der Ernährung, dass sich dadurch im Laufe der Zeit auch das menschliche Genom verändert hat. Und, wie man jetzt vermutet, auch das Mikrobiom.

Ein anderes Projekt geht der Frage nach, wie die zum Beispiel in Weißbrot enthaltene Stärke im Körper verarbeitet wird. Auch das hängt vom jeweiligen Genotyp, also den Genen eines Menschen ab. Manche Menschen bilden bereits in ihrem Speichel derartige Mengen des zuckerspaltenden Enyzms Amylase, dass ein Großteil des Zuckers sehr schnell ins Blut gelangt – und damit auch der Insulinspiegel rapide nach oben schnellt. Bei anderen wird die Stärke langsamer verarbeitet. Was dann allerdings im Darm passiert und welche Organismen für diese Verdauungsprozesse wichtig sind, ist eine spannende Frage für die Forschung – und für eine Gesellschaft, in der die Zahl der Diabetespatienten jährlich steigt.

Die Mikrobiomforschung ist ein vergleichsweise junges Forschungsfeld. Die Euphorie der Pionierjahre, in denen man unendlich viele Ideen wie ein Feuerwerk bestaunte, ist mittlerweile einem sortierteren Vorgehen gewichen. „Wir stehen am Ende vom Anfang“, sagt Ley. Fragen und Ideen bündeln sich allmählich in Forschungsprojekten.

Sie beginnen mit der Geburt. Denn im Mutterleib ist der Fötus frei von Bakterien. Kommt er in die Welt, wird er von der ersten Minute an Teil seiner Umwelt: Bakterien besiedeln die Haut, die Schleimhäute, den Darm. Jeder Mensch entwickelt sein ganz eigenes Mikrobiom.

Dass die Mikrobiomforschung lange Zeit wenig populär war, hat vielleicht auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass viele Menschen zwar oft und gerne über das Essen reden – doch was mit dem Essen im Körper passiert, finden die meisten irgendwie unappetitlich. Solche Hemmungen kennen Mikrobiomforscher nicht. Sie untersuchen Verdauungsprozesse und analysieren dazu auch Stuhlproben oder etwa den CO2-Gehalt von Mäusepupsen.

Der Leidensdruck scheint zuzunehmen. Menschen mit chronischen Darmentzündungen, Laktose- oder Gluten-Unverträglichkeit hoffen darauf, dass die Wissenschaft bald Wege für neue Therapien findet. Manchmal, erzählt Ley, erhalte sie seitenlange Briefe, in denen Patienten ihre Leidensgeschichten schildern. Häufig geht es dabei um langjährige chronische Erkrankungen. Und die Frage: Können Sie mir helfen? Nein, muss sie dann zurückschreiben. Könne sie leider nicht. Sie sei keine Ärztin, sondern Naturwissenschaftlerin. Aber sie trägt mit ihrer Forschung dazu bei, besser zu verstehen, warum es immer mehr dieser Erkrankungen gibt, bei denen Entzündungen oder Fehlfunktionen des Darms oder des Stoffwechsels eine Rolle spielen.

Mit selbem Futter mehr Gewicht

Lässt sich das Mikrobiom eines Menschen dauerhaft beeinflussen, um Erkrankungen wie Diabetes oder Morbus Crohn zu heilen? Von einer Antwort auf diese Frage sei man noch weit entfernt, sagt Ruth Ley. Aber natürlich zielen viele Forschungsprojekte in diese Richtung. Nicht zuletzt arbeitet die Max-Planck-Forscherin mit Tübinger Medizinern im neu gegründeten Mikrobiom-Forschungszentrum auf dem Schnarrenberg zusammen.

Mit schnellen Bleistift-Strichen skizziert Ley eine Versuchsanordnung: Mäuse, deren Mikrobiom mit Christensenella-Bakterien angereichert wurde. Tiere, die weniger von diesen Bakterien im Darm haben, nehmen schneller an Gewicht zu als Tiere mit hoher Christensenella-Besiedlung. Obwohl sie das gleiche Futter bekommen. Dafür werden sich nicht nur Diabetesforscher interessieren, sondern auch Menschen, die allein schon dann drei Kilo zulegen, wenn sie ein Schnitzel nur anschauen. Es liegt nicht nur an der Nahrungsmenge!

Die Ernährungsgewohnheiten beeinflussen das Mikrobiom. Fleischesser zum Beispiel haben eine andere Darmflora als Vegetarier – weil deren Darm andere Aufgaben erledigen muss. Ob sie aufgrund ihres Wissens bewusster lebt? Sich gesünder ernährt? Da lächelt Ruth Ley und wiegt den Kopf. Doch, sie achte schon darauf, welche Getreideprodukte sie zu sich nehme. Müsli, viele Nüsse und Saaten, Gemüse – „vieles, was hier in Deutschland gemacht wird, ist schon ganz gesund“, sagt sie.

Ruth Ley ist Naturforscherin. Bevor sie auf den Menschen kam, hat sie sich mit Mikroben in alpinen Steinlandschaften befasst und mit Stromatolithen: Sedimentgesteinen, die sich aus Ablagerungen von Mikroorganismen gebildet haben. Vorsichtig nimmt sie ein rundes Gebilde in die Hände, das in einer Halterung auf ihrem Schreibtisch ruht. Es ist ein mehr als 2 Milliarden Jahre alter Stromatolith, der aus einer Zeit stammt, als es auf der Erde noch keinen Sauerstoff gab. Aber schon jede Menge Mikroorganismen. „So war das Leben auf der Welt für Milliarden von Jahren“, sagt Ley und dreht dabei die Kugel andächtig in ihren Händen: Bakterien können ohne den Menschen leben. Der Mensch aber nicht ohne Bakterien.

Stationen von Ruth Ley

Ruth Ley, 47, ist die Nachfolgerin von Christiane Nüsslein-Volhard als Direktorin am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Ley lehrte und forschte zuletzt an der Cornell University in New York. Stationen ihres Forscherlebens lagen in Kalifornien, Colorado, Missouri und New York. Ihre Kindheit verbrachte sie in Frankreich. Im Sommer 2016 wurde Ruth Ley

Direktorin am Tübinger Max-Planck-Institut.

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Erstellt:
06.10.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 46sec
zuletzt aktualisiert: 06.10.2017, 01:00 Uhr

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