Unauffälliger Befund

Missbrauch: Angeklagter nimmt Stellung

Der wegen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen angeklagte Reutlinger räumte gestern ein, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen sei – dies jedoch nicht gegen den Willen der Mädchen.

22.07.2016

Symbolbild: Hugo Berties - fotolia.com

Symbolbild: Hugo Berties - fotolia.com

Tübingen/Reutlingen. Im Prozess gegen den 45-jährigen Reutlinger, der über das Internet gezielt junge Mädchen angeschrieben und mehrere missbraucht haben soll, äußerte sich der Angeklagte gestern zum ersten Mal. Nach Wochen des Schweigens im Schwurgerichtssaal des Tübinger Landgerichts ließ er nun über seinen Verteidiger eine Stellungnahme verlesen. Darin räumte er unter anderem ein, dass es zu den Treffen und auch zu den sexuellen Handlungen gekommen sei – dies sei jedoch einvernehmlich und nicht gegen den Willen der Mädchen geschehen. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, ein damals 13-jähriges Mädchen sexuell missbraucht sowie eine 14-Jährige zum Oralverkehr gezwungen zu haben. Nicht zuletzt muss er sich wegen der Verbreitung pornographischer Schriften in über 70 Fällen verantworten.

Dem Angeklagten ging

es um das Machtgefälle

Für ihn sei es eine krisenhafte Zeit gewesen, eine Krise, in der auch Alkohol und Drogen eine Rolle gespielt hätten. Zu diesen Themen äußerte sich ausführlich auch der Gerichtspsychiater Peter Winckler, der in der gestrigen Verhandlung sein Gutachten vorlegte. „Es gibt eine gewisse psychische Labilität und emotionale Instabilität“, sagte Winckler.

Berichten anderer Ärzte zufolge hätte der Angeklagte früher über Jahre hinweg immer wieder depressive Phasen gehabt. Eine akute Depression oder andere psychische Erkrankung konnte der Gerichtspsychiater jedoch nicht feststellen. Unter anderem wegen Suizidäußerungen ist der Angeklagte seit Monaten während seiner Untersuchungshaft in Behandlung.

Zwar habe der Reutlinger früher regelmäßig getrunken, auch seine Ehefrau habe dessen Alkoholmissbrauch bestätigt. Doch keines der Mädchen habe von alkoholbedingten Ausfallerscheinungen bei den Treffen berichtet. Der Angeklagte sei demnach im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten, „ein unauffälliger psychischer Befund“, so Winckler.

Obwohl der Angeklagte gezielt 13- bis 16-Jährige über das Internet gesucht haben soll, sei der 45-Jährige nicht pädophil. Es sei ihm nicht um eine kindliche Erscheinung der Mädchen gegangen, sondern um das Machtgefälle. Er habe mit seiner Erfahrung beeindrucken wollen. Auffallend sei zudem sein allgemein hohes sexuelles Interesse: „Er hat alles angebaggert, was nicht bei drei auf dem Baum war“, so Winckler. Seine Kommunikation sei raffiniert aufgebaut gewesen: zuerst Vertrauen schaffen, um dann die Gespräche zunehmend zu sexualisieren.

Die Beliebigkeit der Opferwahl und ein langer Tatzeitraum über zwei Jahre, das sei „nicht nur eine Krise“ gewesen, so der Psychiater. Zudem habe sich der Reutlinger nicht von polizeilichen Maßnahmen abschrecken lassen: Auch nachdem die Polizei bei einer Hausdurchsuchung im Februar vergangenen Jahres seine elektronischen Geräte eingezogen hatte, habe er unbeirrt weitergemacht – und dazu die Kommunikationsgeräte seiner Töchter genutzt. „Hätte man ihn im Dezember 2015 nicht aus dem Verkehr gezogen, hätte er gerade so weiter gemacht“, sagte Winckler.

In den vergangenen Wochen hatte die Kammer in nicht-öffentlichen Sitzungen 40 Mädchen als Zeuginnen befragt, mit denen der Reutlinger übers Internet Kontakt hatte. Mit einigen von ihnen hatte er sich auch persönlich getroffen. „Es war eindrücklich, welche tiefen Spuren das bei den Mädchen hinterlassen hat“, sagte Winckler.

Heute wird die letzte Zeugin vernommen. Für Montag sind in einer ebenfalls nicht-öffentlichen Sitzung die Plädoyers angesetzt. Auch das Urteil wird in der nächsten Woche erwartet. del

Info: Vorsitzende Richterin am Landgericht: Diana Scherzinger; Richter: Benedikt Quarthal; Beisitzer: Thomas Geiger; Schöffen: Christel Rosenstiel, Hubert Rimmele; Staatsanwältin: Rotraud Hölscher; Nebenklägervertreterin: Andrea Sautter; Verteidiger: Achim Unden; Gutachter: Peter Winkler.

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Erstellt:
22.07.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 41sec
zuletzt aktualisiert: 22.07.2016, 01:00 Uhr

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