Der Feind in meinem Flussbett

Gewässer vergiften als radikale Lösung gegen Neobiota

Haben Sie ein Aquarium? Würden Sie den Inhalt in einen Fluss oder einen Teich kippen? Sind ja nur Fische und etwas Grünzeug ... So dachte mindestens ein Teilnehmer einer Fischereiausstellung anno 1896 im späteren Bad Cannstatt. Er hatte Sonnenbarsche aus Amerika importiert und am Ende einige Exemplare übrig.

15.09.2016

Von Michael Sturm

Sonnenbarsch. Privatbild: Schill

Sonnenbarsch. Privatbild: Schill

Heute, 120 Jahre später, kommt der Sonnenbarsch im gesamten Einzugsgebiet des Rheins vor. Er konnte sich so weit ausbreiten, weil er zum einen so gut wie keine Feinde hatte und zum anderen als gefräßiger und aggressiver als vergleichbare, hier angestammte Fische gilt.

In den letzten fünf Jahrhunderten hat der Mensch – ob unabsichtlich oder absichtlich – einiges dazu getan, dass Neobiota (eingewanderte Tiere und Pflanzen, die einheimische verdrängen) fern der Heimat siedelten. Ein extremes Beispiel: Nandus, aus Südamerika stammende Straußenvögel, verschafften sich in Mecklenburg-Vorpommern Freiheit und leben nun in Niedersachsen. Sie verursachen Schäden in Maisfeldern, gelten aber auch als Touristenattraktion. Hier in der Gegend gehören das Tausendblatt im Hirschauer Baggersee, die Mandarinenten an der Tübinger Neckarinsel oder die Bisamratte, die am Ammerkanal gesehen wurde, zu den Neobiota. Dass bei Reutlingen nach wie vor einheimische Edelkrebse vorkommen, gilt in der Fachwelt als äußerst bemerkenswert. Der Bestand dieser Tiere ging rapide zurück, als der Kamberkrebs aus Amerika importiert wurde und hier in die Gewässer gelangte. Heute weiß man, dass der Kamberkrebs einen zweiten Organismus mit sich brachte, einen Pilz – den Krebspesterreger. Dagegen ist der Kamberkrebs immun. Der Edelkrebs nicht. Eine Pilzspore kann ganze Bestände auslöschen.

Durch Neobiota ausgelöste Schäden tun Kommunen und Landkreisen richtig weh. Bisamratten, welche die den Bibern zugedachte Nische ausfüllen, unterhöhlen ganze Uferböschungen. Sie allein verursachten im Jahr 2003 Schäden, die sich bundesweit auf etwa 12,5 Millionen Euro beliefen. Laut einer Schätzung aus demselben Jahr verursachten Neobiota insgesamt Kosten von rund 155 Millionen Euro.

Was tun? „Ein schwieriges Thema, vor allem für Naturschutzbehörden“, sagt der Tübinger Biologe Ralph Oliver Schill, der an der Uni Stuttgart über unerwünschte Einwanderer aus dem Tier- und-Pflanzenreich forscht. Er war am Entwurf eines Katalogs beteiligt, der Wasserwirtschaftsbetrieben und Kläranlagenbetreibern im Umgang mit Neobiota als roter Faden dienen soll. In der Praxis favorisiert er die radikale Lösung: Ein Gewässer, in dem Neobiota leben, zu vergiften, um danach die vorher dort lebenden Tier- und Pflanzenarten wieder anzusiedeln! Es wäre eine einschneidende Maßnahme – sie ist in Deutschland, im Gegensatz zu anderen Ländern, verboten. „So mutig ist man hier nicht“, sagt der Tübinger Biologe. Hier werde Wasser abgelassen und die Tiere würden, zum Teil elektrisch, abgefischt. Andere Tiere hineinzuwerfen, um Neobiota abzufressen, sei auch nicht erwünscht. „Weiche Lösungen“, sagt Schill, „bringen uns aber nicht weiter.“ Er rechnet damit, dass die Öffentlichkeit wenig Verständnis für seine Position aufbringen wird. Und sagt dennoch: „Man muss Tabus aufbrechen. Man braucht diese Diskussion.“

Der Biologe Ralph Oliver Schill aus Tübingen erforscht Neobiota und fordert, sie in Deutschland aggressiver als bislang zu bekämpfen.. Privatbild

Der Biologe Ralph Oliver Schill aus Tübingen erforscht Neobiota und fordert, sie in Deutschland aggressiver als bislang zu bekämpfen.. Privatbild

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Erstellt:
15.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 20sec
zuletzt aktualisiert: 15.09.2016, 01:00 Uhr

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