Höchste Ehrung der Tübinger Uni an ehemaligen Bundespräsident

Der gekränkte Mensch: Dr. Leopold Lucas-Preis für Joachim Gauck

Joachim Gauck erhielt gestern im Festsaal die höchste Ehrung der Tübinger Universität und plädierte für die Anerkennung von Differenz.

17.05.2017

Von Ulla Steuernagel

Im Tübinger Festsaal hatte er gestern den ersten großen Auftritt nach seiner Amtszeit als Bundespräsident: Joachim Gauck las seine Preisrede zwar ab, aber er beherrscht diese Kunst so perfekt, dass es schien, als würde er den Vortrag frei halten. Bild: Metz

Im Tübinger Festsaal hatte er gestern den ersten großen Auftritt nach seiner Amtszeit als Bundespräsident: Joachim Gauck las seine Preisrede zwar ab, aber er beherrscht diese Kunst so perfekt, dass es schien, als würde er den Vortrag frei halten. Bild: Metz

Sein tiefer Dank gelte dem Stifter Franz D. Lucas, einem Menschen, „der hätte hassen können und stattdessen heilen wollte“. Mit diesen Worten begann Joachim Gauck gestern Abend seine Rede vor etwa 750 Zuhörern im Festsaal der Neuen Aula. Der Altbundespräsident und diesjährige Adressat des Leopold Lucas-Preises nahm sich dann eines Themas an, das man von einer Preisrede schon gar nicht erwartet hätte: dem Phänomen der Kränkung. Gauck selber gestand ein: „Ich hätte auch über etwas sprechen können, wovon ich mehr verstehe.“ Doch er habe sich gerade an dieses Thema herantasten wollen. Nicht zuletzt, wie er am Ende verriet, eines Ereignisses wegen, das „eine der gereiftesten Demokratien“ der Welt erschütterte und mit dem Namen Donald Trump verbunden ist. Dessen Wähler reagierten für Gauck als eine gekränkte Mehrheit.

Mit der Kränkung, so hatte der Preisträger im Gang durch Geschichte und aktuelle Weltlage herausgefunden, gehe ein „durchaus ambivalenter Prozess“ einher. Einerseits habe der „gesellschaftliche Fortschritt mit seinen Bemühungen zur Anti-Diskriminierung zahlreiche Früchte getragen“. Doch der Gerechtigkeitsgewinn könne auch eine „problematische Spirale“ in Gang setzen. Auch andere Gruppen ringen nun um vergleichbare Anerkennung, Mehrheiten fühlen sich übergangen, verlangen Wiedergutmachung, dürsten nach Rache.

„Es fällt schwer, heute nicht beleidigt zu sein“, hatte unlängst „Die Zeit“ getitelt. Überall, so klagte sie, lauerten Affronts – tatsächliche und eingebildete. Auch Gauck fand zahlreiche Beispiele für Kränken und Gekränktsein. Die Kränkung gehöre unabdingbar zum Menschsein. Man nehme nur Kain und Abel oder den verletzten Gerechtigkeitssinn eines Michael Kohlhaas. Man erinnere sich an Slobodan Milosevic, der auf eine 600 Jahre alte Kränkung der Serben durch die Osmanen bauen konnte. Oder an die Meuchellust eines Kim Jong-Un, auch auf Wladimir Putin verwies Gauck, dieser habe nach dem zerfallenen Sowjetimperium den Russen Stolz und Selbstbewusstsein wiedergegeben. Oder man denke an Erdogans Verbalattacken gegen Europa und seine Megalomanie im Inneren.

Auch die deutsche Geschichte ist von Kränkungen gezeichnet. Der „Frieden von Versailles“ am Ende des Ersten Weltkriegs sei für die meisten Deutschen einem „Schandvertrag“ gleichgekommen. Erst auf längere Sicht habe sich die Kränkung in eine Chance verwandelt: „Es brauchte bei uns aber wohl die große Erschütterung über Unrecht, Gewalt und Mord unter nationalsozialistischer Diktatur, damit die Deutschen die Spirale der Vergeltung unterbrachen.“

Erinnern und Trauern sei zur „großen zivilisatorischen Leistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ geworden. Was Gauck in der Annahme bestärkte: „Kränkung kann eingehegt werden.“

„Kränkung hat viele Gesichter“, so betonte er. Sie entstehe immer aus verunsichertem Selbstwertgefühl, offenbare immer Verletzung und Mangel, könne ganze Völker zu Rachefeldzügen verleiten, aber auch mutigen Widerstand hervorrufen und manchmal sogar kreative Energie freisetzen, wie etwa bei den Künstlern. „Nicht nur die Kränkung gehört also zur DNA der Menschheit,“ resümierte Gauck, „auch der Umgang mit ihr.“ Einst eher als Schwäche gehandelt, werde die Kränkung nun immer häufiger als Waffe eingesetzt. Gauck zitierte den Psychiater und Psychotherapeuten Reinhard Haller, der von einer „Waffe für Anerkennung“ spricht. Oder, so habe es der bosnische Schriftsteller Miljenko Jergovic nach den Balkankriegen in einem bitteren Satz gesagt: „Es gibt keinen größeren kollektiven Genuss für eine Volksgruppe denn als Opfer zu leben.“ In dieser Position sei einem wirtschaftlicher und moralischer Kredit sicher.

Der „Konkurrenz der Gekränkten“ setzte Gauck die Vielfalt einer Gesellschaft gegenüber, in der jedoch „das Einigende und das Miteinander nicht in Vergessenheit“ geraten dürften. „Ich möchte mir keine Gesellschaft vorstellen, die in radikaler Sensibilität bestrebt ist, jede Art von Kränkung von vorneherein zu vermeiden und eine generelle Kränkungsverschonung durchzusetzen“, betont er. Er wolle keine Gesellschaft, in der schon das Benennen von Differenz sanktioniert werde, in der Erziehungsdiktatur und Selbstzensur herrsche und nicht vom verordneten Leitdiskurs abgewichen werde. „Statt Menschen in einer Komfortzone vor Kränkungen zu bewahren, sollten umgekehrt ihre Abwehrkräfte und ihr Selbstbewusstsein gestärkt werden, damit sie den Kränkungen gewachsen sind.“ Mit einem Appell an alle Menschen, die Menschen erziehen, sie zu einer stabilen Identität und zu Resilienz hinzuführen, also ihr Abwehrpotenzial zu wecken, beendete Gauck seine Rede unter großem Beifall.

Den Preis hatte ihm zuvor der Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Prof. Michael Tilly, überreicht. In seiner Laudatio rühmte dieser den ehemals ranghöchsten Mann im Staate als jemanden, der auf die Verantwortung von Wissenschaft setze, aber auch die Fähigkeit habe, die Ergebnisse und Erkenntnisse zu kommunizieren. Zu Gauck gewandt dagte Tilly: „Die Evangelische Fakultät würdigt mit der Auszeichnung Ihr unbeirrtes Engagement für Freiheit und Toleranz wie auch für solide und quellenorientierte wissenschaftliche Arbeit.“ Dies sei ganz im Sinne von Leopold Lucas, der gesagt habe: „Im Judentum lebt noch immer die alte Überzeugung, dass eine Vernachlässigung der Wissenschaft der tiefste Grund innerer und äußerer Friedlosigkeit ist.“

Der große und der „kleine“ Lucas-Preis

Leopold Lucas starb 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt, den Preis stiftete sein inzwischen verstorbener Sohn Franz. Mittlerweile kommt der Enkel Frank Lucas zur alljährlichen Verleihung nach Tübingen. 1972 wurde die Stiftung zum 100. Geburtstag von Leopold Lucas ins Leben gerufen, zwei Jahre später der Preis zum ersten Mal verliehen. Seit 1985 wird zudem der Nachwuchswissenschaftlerpreis abwechselnd von evangelischen und katholischen Theologen, Philosophen und Geschichtswissenschaftlern vergeben.

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Erstellt:
17.05.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 40sec
zuletzt aktualisiert: 17.05.2017, 01:00 Uhr

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