Unbeirrt weitergemacht

45-Jähriger soll auch nach Hausdurchsuchung noch Mädchen kontaktiert haben

Am zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen einen Reutlinger, der im Internet Kontakte zu Kindern und Jugendlichen aufgenommen und einige bei Treffen auch vergewaltigt haben soll, hat gestern die Mutter eines Opfers ausgesagt.

21.06.2016

Von Thomas de Marco

Symbolbild

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Tübingen. Es sei traurig und beschämend, dass jemand so etwas mache, beklagte eine 42-jährige Frau aus einer Böblinger Kreisgemeinde, deren 18-jährige Tochter zuvor unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesagt hatte. Von den Vorfällen hat die Mutter erst durch die Ermittlungen der Polizei erfahren, die Tochter habe es ihr nicht erzählt. Als die Sache bekannt wurde, sei es ihrer Tochter nicht gut gegangen, „sie hat geweint und zugenommen“, sagte die Mutter.

Sie, der Vater und die Geschwister hätten ihr aber „Unterstützung ohne Ende“ zukommen lassen. „Jetzt geht es ihr besser – durch eine Bestrafung hoffentlich noch besser“, erklärte die 42-Jährige, schaute wütend zum Angeklagten und wandte sich lächelnd zu ihrer Tochter um.

Der 45-Jährige, der in Handschellen in den Saal geführt worden war, saß derweil regungslos auf der Anklagebank, kleine Statur, Vollbart, müde Augen, trauriger Blick. Nachdem sich ein Mädchen aus Heilbronn bei der Polizei gemeldet hatte, weil sie von ihm Mails mit pornografischen Bildern erhalten hatte, begannen die Ermittlungen: Am 17. Februar wurde das Haus des Beschuldigten durchsucht und ein Handy sowie ein Laptop beschlagnahmt, erklärte der Kriminalhauptkommissar, der die Ermittlungen leitet.

Von Herbst 2013 bis Dezember 2015 soll der Angeklagte übers Internet gezielt Kontakt zu Mädchen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren aufgenommen und sich dabei als Sportlehrer, Steuerberater oder auch als 16-Jährigen ausgegeben haben (wir berichteten). In diesen Chats habe er umgehend über sexuelle Interessen gesprochen und den Mädchen unaufgefordert pornografische Bilder, häufig von seinem erigierten Penis, sowie Videos geschickt. Im Gegenzug habe er Mädchen aufgefordert, Nacktbilder zu senden oder zu masturbieren.

Beschuldigter sieht sich als Opfer einer Hetzjagd

Der Angeklagte habe nach der ersten Durchsuchung im Beisein seiner Frau den Kontakt zu dem Mädchen aus Heilbronn unumwunden zugegeben – aber einen Unterschied zwischen diesem und allen anderen Kontakten gemacht. Diese wären ohne die Ermittlungen ja gar nicht bekannt geworden und zudem einvernehmlich gewesen, da er mit den Mädchen befreundet gewesen sei. Der Beschuldigte, so der Kommissar, habe in aufgebrachtem Ton sogar von einer Hetzjagd gesprochen: Nur aufgrund der Ermittlungen hätten die Mädchen gegen ihn ausgesagt. Er habe sogar Anzeige gegen eines der Mädchen erstattet, sagte der Angeklagte gestern impulsiv in seiner einzigen Äußerung.

Bei der zweiten Durchsuchung am 11. Juni 2015 ergaben sich viele neue Hinweise. „Uns war klar, dass er gerade so weitermacht“, betonte der Hauptkommissar. Damals habe der Beschuldigte bereitwillig ausgesagt, seine Taten mit einer schweren Depression begründet. Er habe aber nie einen bedrückten oder niedergeschlagenen Eindruck gemacht, sondern sei aufbrausend gewesen, erklärte der Polizist auf Nachfrage des Sachverständigen Peter Winkler.

Auswertungen der Handys, Laptops und eines Navis hätten zu 39 Ermittlungsgesuchen in Baden-Württemberg und Bayern geführt. 11 Betroffene kommen aus dem Raum Reutlingen. Oft trat der Angeklagte wie ein „Sugar Daddy“ auf, der Mädchen für sexuelle Kontakte mit Geld oder Präsenten belohnt. Eines von drei Mädchen einer Jugendwohngruppe etwa durfte nach sexuellen Handlungen mit dem Auto des Mannes fahren. Oft traf er sich in einem Hotel in Reicheneck mit Mädchen.

Nach Prozessauftakt habe er einen Anruf der Schwiegermutter des Angeklagten aus Mannheim bekommen, erklärte der Ermittler. Ihre Tochter habe sich vom Mann, der sie und ihre Kinder auch geschlagen habe, getrennt. Alle wollten nicht aussagen im Prozess, der am Donnerstag fortgesetzt wird. Der Sachverständige bot an, mit der Ehefrau außergerichtlich in Kontakt zu treten.

InfoVorsitzende Richterin: Diana Scherzinger; Richter: Benedikt Quarthal; Beisitzer: Thomas Geiger; Schöffen: Christel Rosenstiel, Hubert Rimmele; Staatsanwältin: Rotraud Hölscher; Nebenklägervertreterin: Andrea Sautter; Verteidiger: Achim Unden; Gutachter: Peter Winkler.

Zwei Anträge auf Haftbefehl sind abgelehnt worden

Vielleicht wären einigen Mädchen die Kontakte mit dem Angeklagten erspart geblieben, wenn die von den Ermittlern beantragten Haftbefehle vollstreckt worden wären. So aber wurden diese Haftbefehle, die von der Polizei nach den Durchsuchungen im Februar und Juni jeweils gefordert worden waren, abgelehnt. Fehlende Fluchtgefahr sowie die Annahme, der Angeklagte würde aufgrund der Ermittlungen von Wiederholungen der Taten absehen, seien als Gründe genannt worden, erfuhr das TAGBLATT gestern am Rande der Gerichtsverhandlung. Verhaftet wurde der Mann erst, als er bei einer Routinekontrolle in Reutlingen angehalten worden war – mit einem Mädchen im Auto. Er sei mit ihr auf der Fahrt zum Krankenhaus, gab der Angeklagte gegenüber dem Beamten an. Dieser fand allerdings heraus, dass gegen den Mann ermittelt wurde, verständigte den zuständigen Kriminalhauptkommissar – und der ließ den Beschuldigten dann verhaften. Dieser hatte den Schlüssel für das Reichenecker Hotel, wo er häufig mit Mädchen aufs Zimmer ging, bereits dabei.

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Erstellt:
21.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 20sec
zuletzt aktualisiert: 21.06.2016, 01:00 Uhr

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