Nach Offenem Brief

Strafrechtsexperte Kinzig: Rechtlich liegt Palmer daneben

Der Strafrechtsexperte Jörg Kinzig widerspricht Boris Palmer: Die rechtlichen Hürden für U-Haft sind höher als der OB glaubt.

28.09.2023

Von Jonas Bleeser

Boris Palmer, Jörg Kinzig. Bilder: Ulrich Metz, privat

Boris Palmer, Jörg Kinzig. Bilder: Ulrich Metz, privat

In seinem offenen Brief an das Innen- und das Justizministerium will Tübingens OB Boris Palmer wissen, warum ein Mann nicht in U-Haft sitzt, der bei einem Polizeieinsatz einen Beamten umstieß und so verletzte, dass der zeitweise in Lebensgefahr war. Dazu führt er die Strafprozessordnung an und behauptet, es könne „ein dringend Tatverdächtiger inhaftiert werden, wenn das Leben eines anderen durch die Tat gefährdet worden ist“.

Nur: Wenn keine Flucht- oder Verdunklungsgefahr vorliegt, ist das laut Gesetz nur bei definierten Straftaten erlaubt, etwa Mord oder schwerem sexuellen Missbrauch. Der Satz, auf den Palmer sich bezieht, erklärt Strafrechtsexperte Prof. Jörg Kinzig, gilt nicht allgemein: „Er bezieht sich nur auf das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion.“ Das ergibt sich direkt aus dem Gesetzestext. Darauf weist auch das vom TAGBLATT dazu angefragte Landesjustizministerium hin. Zum Brief äußert es sich nicht, da der noch immer nicht eingegangen sei. Kinzig wundert sich, dass Palmer die falsche Rechtsauslegung einfach so verbreitet: „Er hätte als verantwortungsvoller OB ja mal jemanden in der Rechtsabteilung fragen können.“ So aber deute Palmer an, die Staatsanwaltschaft handele nicht, obwohl sie es rechtlich könnte. „Dabei gibt es ja ein Ermittlungsverfahren, an dessen Ende vermutlich eine Verhandlung und ein Urteil stehen werden“, stellt Kinzig fest. Die Ermittler gehen derzeit nicht davon aus, dass der 32-Jährige die schwere Verletzung mit Absicht verursachte.

Jemandem die Freiheit zu nehmen, ist ein schwerer Grundrechtseingriff – zumal, wenn er nicht verurteilt ist. „Das darf nur verhältnismäßig eingesetzt werden“, sagt Kinzig. Die Untersuchungshaft diene nicht als vorweggenommene Strafe, sondern nur der Sicherung des rechtsstaatlichen Verfahrens – damit der Beschuldigte nicht flieht, keine Beweise vernichtet werden oder Zeugen bedroht. Dass Palmer den Fall mit der gambischen Nationalität des Mannes verquickt, kann Kinzig nicht nachvollziehen: „Die ist bei Widerstand gegen die Polizei erstmal zweitrangig.“

Newsletter Recht und Unrecht

Sie interessieren sich für Berichte aus den Gerichten, für die Arbeit der Ermittler und dafür, was erlaubt und was verboten ist? Dann abonnieren Sie gratis unseren Newsletter Recht und Unrecht!