Reutlinger Begegnung

Zwischen Schulbuch und Sattel

Ammar Kamel kam 2016 als Flüchtling aus Syrien. Nun spricht er fast fließend Deutsch, lernt eifrig und trainiert ehrgeizig für ein großes Ziel.

06.12.2017

Von Kathrin Kammerer

Ein beachtliches Pensum: Der 19-jährige Ammar Kamel will Abitur machen und Radprofi werden. Dafür lernt und trainiert er täglich.Bild: Haas

Ein beachtliches Pensum: Der 19-jährige Ammar Kamel will Abitur machen und Radprofi werden. Dafür lernt und trainiert er täglich.Bild: Haas

Es ist ein beachtliches Pensum, das Ammar Kamel täglich absolviert: Wenn der 19-Jährige nicht gerade zur Schule geht, auf Klassenarbeiten büffelt, Unterrichtsstoff wiederholt oder übersetzt, dann trainiert er auf seinem Rennrad. „Das ist schon anstrengend, es bleibt wenig Freizeit oder Zeit für Freunde“, sagt er. Aber Kamel hat große Ziele. Er will sein Abitur machen, danach studieren. Und dann am allerliebsten Profi-Rennradfahrer werden.

Ammar Kamel kommt aus Syrien. Er ist mit drei Geschwistern in Aleppo aufgewachsen, ging dort zur Schule. Der Vater war Elektriker, der Sohn fuhr Rennrad im syrischen Nationalteam – eine ganz normale Familie. Dann kam der Krieg. Kamels Vater machte sich im Januar 2015 auf den gefährlichen Weg übers Meer und die Balkanroute nach Deutschland. Dort fand er Arbeit, eine Wohnung und bekam Unterstützung.

Ammar, seine heute 12- und 16-jährigen Brüder und die Mutter konnten dank des Familiennachzugs ein Jahr später ebenfalls nach Deutschland kommen. Die verheiratete 22-jährige Schwester jedoch lebt mit ihrem Mann und dem kleinen Kind bis heute in Damaskus. Per Familiennachzug durften damals nur die minderjährigen Kinder mit nach Deutschland.

Ammar Kamel ist ein höflicher, junger Mann. Die Familie lebt in der Reutlinger Innenstadt. Weil er – in Deutschland angekommen – sofort in eine feste Wohnung ziehen konnte, hatte der 19-Jährige schnell Zeit, um die neue Sprache zu lernen. Und das tat er auch – mit großer Energie. Heute spricht er fast fließend Deutsch. „Die Sprachkurse sind schon okay“, sagt er. Aber man lerne nicht optimal, wenn man nur mit anderen Flüchtlingen spricht, findet Kamel: „Das ist dann teilweise kein korrektes Deutsch.“

Traum von der Tour de France

Er wollte mehr und besser lernen, also begann er im September 2016 die 10. Klasse des Isolde-Kurz-Gymnasiums zu besuchen. Was als Deal mit Schulleiterin Gabriele Häfele begann, wurde zum Erfolg: „Eigentlich hätte ich die Klasse auch nochmal wiederholen können“, sagt er. Das war aber gar nicht nötig, denn er beendete das Schuljahr mit einem Notenschnitt von 2,7.

Mathe und Physik fallen ihm leicht, wie er erzählt. In Deutsch und Englisch tue er sich dagegen schwer. „Englisch hatte ich zwar in Syrien, aber vieles habe ich auch wieder vergessen, da ich im letzten Jahr so viel Deutsch gelernt habe.“ Auch für Geschichte und Politik muss er richtig pauken: „Denn in Syrien haben wir eben ganz andere Sachen in diesen Fächern gelernt.“

Hinter den guten Noten steckt viel Arbeit: Während sich die deutschen Klassenkameraden aufs inhaltliche Verständnis konzentrieren können, muss er zunächst komplizierte Wörter übersetzen. Jüngst wurde Kamel ins Stipendiaten-Programm „Talent im Land“ aufgenommen (siehe Infokasten) – sein Lerneifer macht sich bezahlt. Nach dem Abitur will er dann „was Naturwissenschaftliches“ studieren.

Und dann wäre da ja auch noch der Plan mit der Profi-Radkarriere. Seit er 14 Jahre alt ist, sitzt Kamel im Sattel. Zunächst beim Triathlon, dann beschloss er, nur noch Rad zu fahren. Und das tat er so gut und so ambitioniert, dass er irgendwann sogar im syrischen Nationalteam fuhr. Zwei Monate, nachdem er in Deutschland angekommen war, begann er auch hier wieder mit seinem Hobby. Anschluss gefunden hat er beim TSV Betzingen in der Radsportabteilung. Im Sommer stehen fünf Trainingseinheiten pro Woche auf dem Plan, im Winter sogar sechs. Dazu laufen und schwimmen für die Kondition. „Ich würde gerne bei der Tour de France fahren“, sagt Kamel. In seinem Zimmer steht sein Rennrad, das er von einem Sponsor bekommen hat. An der Wand hängt eine große Leinwand mit Rennradfahrern, am Fenster unzählige Medaillen.

Nach Syrien wird er nicht zurück gehen, da ist sich der 19-Jährige ganz sicher: „Denn Deutschland ist meine neue Heimat.“ Nur seine Schwester vermisst Ammar Kamel – und seine Freunde. Und die guten Zeiten in Aleppo, bevor der Krieg begonnen hat.

Aufnahme ins Stipendiaten-Programm

Im Internet wurde Ammar Kamel auf das Stipendiatenprogramm „Talent im Land“ aufmerksam. „Ich war unsicher, ob ich mich bewerben soll, und hab’ zuerst mit meiner Deutschlehrerin geredet“, erzählt er. Die habe ihn sofort unterstützt und ein Gutachten über seine schulischen Leistungen geschrieben, welches er gemeinsam mit seinen Zeugnissen einreichen musste. Mit Erfolg: Im November wurde er angenommen und erhält nun gemeinsam mit 53 anderen Stipendiaten eine monatliche Unterstützung von 150 Euro. Diese muss für Bildungsausgaben genutzt werden. Weitere 200 Euro kann er in Nachhilfe-Angebote investieren. „Ich besuche einen Deutsch-Kurs“, sagt er. Träger von „Talent im Land“ sind die Robert-Bosch- und die Baden-Württemberg-Stiftung.