Wirtschaft im Profil

Zwischen Kultur und Kalkül

Alle paar Jahre wird der Kampf um die Innenstädte ausgerufen. In Corona-Zeiten scheint die Lage besonders dramatisch. Erleben wir demnächst schwarze Löcher in unseren Zentren? Manche sagen das. Doch auch, wenn wir die Kurve kriegen: Die Stadtmitte als Boxring von Interessen und Visionen wird bleiben, auch wenn das Virus längst Geschichte ist. Das ist gut. Weil es zeigt, dass die City lebt.

05.03.2021

Von Eike Freese

Eine Innenstadt ohne Autos? Unvorstellbar! Es gab Zeiten, da wurde es heiß diskutiert, ob Zentren überhaupt mit autofreien Gassen funktionieren können. Das Bild zeigt den Tübinger Marktplatz im Jahr 1977.

Eine Innenstadt ohne Autos? Unvorstellbar! Es gab Zeiten, da wurde es heiß diskutiert, ob Zentren überhaupt mit autofreien Gassen funktionieren können. Das Bild zeigt den Tübinger Marktplatz im Jahr 1977.

Wieder so ein neues Wort: die resiliente Stadt. Resilient, das meint anpassungsfähig, vital, krisenfest. Eine City, die etwa wirtschaftlich nicht von einem einzigen Krisel-Karstadt abhängt. Ursprünglich als Konzept gegen Katastrophen wie Klimawandel oder sozialer Verödung entwickelt, hört man den Modebegriff nun immer öfter, um auch den vielen kleinen, schleichenden Prozessen in Lebensräumen Rechnung zu tragen. Und mal ehrlich: Ein bisschen Apokalypse lag doch immer in der Luft, wenn Menschen in den vergangenen Jahren über Innenstädte sprachen.

„Ich finde dieses Drama in der Diskussion gar nicht schlecht, das schafft eine gewisse Awareness für die Lage“: Das sagt Andreas Topp, Leiter „Handel“ bei der IHK Neckar-Alb. Topp glaubt, dass die hitzige Art der Diskussion über die Zentren ganz normal ist. Einerseits sind Städte immer im Wandel, und zwar massiv. Und zugleich sind sie als Brennpunkt von Kultur und Identität mit entsprechenden Emotionen verknüpft. Das Aussehen einer City stand immer im Zentrum heftiger Interessenkonflikte, doch auf eins konnten sich alle stets einigen: Ein Zentrum muss Begegnung bieten. Doch da fangen die Probleme schon an.

In Baden-Württemberg haben zahlreiche Orte mit verödeten Zentren zu kämpfen. Es gibt eine neue Tristesse in großen Städten wie Sindelfingen oder Stuttgart, aber auch in kleinen Dörfern, die um die letzten Reste von Handel und Kultur ringen. In der Region kämpft etwa das geschichtsträchtige Hechingen um ein wenig Leben in den Gassen seiner Oberstadt. Ganz anders Mössingen: Was vor hundert Jahren noch ein Dorf war, versucht seit Jahren mit enormen Anstrengungen, überhaupt mal eine Mitte mit immer neuen Großgebäuden und Geschäftsideen herzustellen.

Vom Forum mit Platz für Kutschen zur Erlebniswelt: Tübingen im Jahr 1904 (oben) und beim umbrisch-provenzalischen Markt der Gegenwart.

Vom Forum mit Platz für Kutschen zur Erlebniswelt: Tübingen im Jahr 1904 (oben) und beim umbrisch- provenzalischen Markt der Gegenwart.

Zwischen Kultur und Kalkül

Im Vergleich zu diesen Beispielen kämpfen Oberzentren wie Tübingen oder Reutlingen auf hohem Niveau. Aber auch sie haben ihre Prüfungen zu bestehen. Jede Online-Bestellung fehlt auch hier in den Kassen der Altstadt-Händler – und die Mieten sind oft so hoch, dass manche Läden nur noch als Liebhaberei existieren können. „In Städten wie Tübingen sind die Mieten das größte Problem, gar keine Frage“, sagt Hans-Peter Schwarz, Ex-HGV-Vorstand, Veranstalter und Altstadt-Händler (Printausgabe Seite 8). Die Kosten bedrohen nicht nur konkrete Geschäfte, sondern auch die Dynamik der Innenstadt an sich. Weil sich vielleicht nicht immer das ansiedelt, was eine City braucht – sondern nur ein weiterer Handy-Filialist, der absurde Kosten zu tragen bereit ist.

Die Stadt Tübingen hat gerade mit viel Mühe ein Einzelhandels-Konzept entwickelt, dass solchen und anderen Entwicklungen Rechnung trägt. Das buchdicke Papier ist nicht nur Lippenbekenntnis, sondern hat konkrete Folgen, bis ins Kleine. Beispiel Fahrradläden: Die sind nun „zentrenrelevant“ – sie können nicht mehr einfach auf der Grünen Wiese entstehen. Das ist eine selbstbewusste Setzung, die die Händler in der Innenstadt stärkt, aber eben nicht in der „Natur der Sache“ liegt. Trotzdem haben Freundinnen des freien Marktes wie Sabine Hagmann, die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg, mit solchen Einschränkungen wenig Probleme. „Letztlich geht es um gesunde Unternehmen und gesunde Standorte“, sagt die Tübingerin: „Wenn Stadt- und Regionalplanung gut gemacht sind, sind sie essentiell.“ (siehe Printausgabe Seite 4).

Die Regionalentwicklung hat gerade in Neckar-Alb hat einige Konflikte erlebt. Klassischer Gegensatz: Zentrum gegen Peripherie und Zentren untereinander. Etwas in den Hintergrund gerückt ist inzwischen der Streit um eine der deutschlandweit bemerkenswertesten Bummelmeilen überhaupt: die Outletcity Metzingen, eine Stadt als Riesen-Kaufhaus. Viele Unternehmer der Region betrachten die Konkurrenz des stetig wachsenden Shopping-Städtchens inzwischen nur noch als Kuriosum, das die Gegend auch bereichert. Die Gäste kommen eben auch mal aus China auf die Alb. „Metzingen hat eine Sonderstellung, der man mit herkömmlichen Vergleichen nicht beikommen kann“, sagt Handelsfachmann Andreas Topp: „Ich glaube, die Region kann dankbar sein, dass es das gibt.“

Im kleineren Maßstab zeigten sich Konflikte der Regionalentwicklung aber durchaus. Was passiert mit den über Jahre gewachsenen Sport-Anbietern der Innenstädte, wenn in Reutlingen demnächst ein großer Sport-Discounter eröffnet? Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Konsumenten durchaus eine Stunde mit dem Auto fahren, um ihre Jogginghose billiger zu bekommen.

Ebenfalls durch die Presse ging in den vergangenen Jahren der Streit um neue Einkaufsmärkte an der B27 bei Ofterdingen. Der geplante, für Filialen günstige Standort war gerade einmal einen Kilometer vom Ofterdinger Ortskern entfernt – und doch lehnte ihn der Regionalverband ab, weil er eben nicht die Dorfentwicklung befördere, sondern verhindern könnte, dass Händler im verwaisten Ortskern selbst Geschäfte eröffnen. Für diese Mini-Zentren, sagen manche, steht in der aktuellen Entwicklung das meiste auf dem Spiel.

Dass auch Dörfer nicht verloren sind, zeigt etwa Nehren im Steinlachtal. Unter Bürgermeister Egon Betz wurde das Örtchen jüngst ordentlich aufgepäppelt: Die Hauptstraße gedieh zum Bummelgässchen, es gibt neue, experimentierfreudige (Gastro-)Betriebe, ein von der Gemeinde mitgetragenes Dorfgasthaus und, dank kommunaler „Metzgerei-Findungskomission“, auch wieder einen Metzger. Megatrend Urbanisierung? Ja – aber kein Problem (siehe Print-Ausgabe Seite 8/9).

Und der andere Megatrend, das Online-Geschäft? Ein selbstbewusster stationärer Riese wie der Tübinger Buchhandels-Filialist Osiander hat sich jüngst mit seinem Dauer-Rivalen Thalia zusammengetan, um im Internet mehr Power zu haben. Das Kartellamt fand das in Ordnung. Warum? Unter anderem, weil es dort draußen noch einen viel größeren Konkurrenten gibt, der das Leben und Sterben in den Innenstädten prägt.

„Amazon zum Trotz glaube ich, dass der stationäre Handel in den Citys eine tolle Zukunft haben kann“, sagt Christian Klemp, Geschäftsführer der Modehaus-Kette Zinser. Zinser hat mit Konkurrenten wie Zalando zu kämpfen, und sieht seinen eigenen Online-Shop als Mitspieler, aber nicht als Konkurrenten zu den Global Players. „Das wird immer nur ein Ergänzungsgeschäft sein für uns in der Region“, so Klemp: „Unsere Zukunft liegt im erlebnisorientierten Shopping vor Ort. Und das wird es auch in Jahrzehnten noch geben.“ (Siehe auch Printausgabe Seite 12).

Vor allem, wenn die Sache mit der verflixten Resilienz klappt. „Für mich bedeutet der Begriff die Fähigkeit einer Stadt, neue Lösungen in einer gewissen Vielfalt zu finden, ohne die Identität zu verlieren“, sagt Andreas Topp. Tübingen etwa hat seine Charakteristik zuletzt nicht nur verändert, sondern stark erweitert. Unter den Rathauschefs Brigitte Russ-Scherer und Boris Palmer scheint sich aktuell ein reiches und sehr organisches Gemisch etabliert zu haben: aus Fachwerk und Universität, Coworking-Spaces und kleinen Läden, aus Kino, Theater, Gastro und, sehr wichtig: Spaß und Nachtleben (siehe Printausgabe Seite 11). Nicht zu vergessen: Tübingen ist immer noch eine Stadt, in der Menschen nicht nur arbeiten und einkaufen, sondern vor allem wohnen. Kurz: Lebensraum Innenstadt.