Pandemie

Zwei Mutationen bereiten Sorgen

Während das Impfen Hoffnung macht, könnten die neuen Varianten des Virus auch in Deutschland für unangenehme Überraschungen sorgen.

12.01.2021

Von HAJO ZENKER

So breitet sich das Virus aus Foto: Quelle: Reichelt/gov.uk

So breitet sich das Virus aus Foto: Quelle: Reichelt/gov.uk

Berlin. So langsam geht es nach einem vielerorts holprigen Start tatsächlich in nennenswertem Umfang los mit dem Impfen, mittlerweile mit zwei zugelassenen Corona-Vakzinen. Das viel beschworene Licht am Ende des Pandemie-Tunnels also. Nur wird der Tunnel wohl gerade wieder länger. Und das liegt an Mutationen des Virus.

Nun sind Mutationen normal. Nicht normal ist, dass die B.1.1.7 getaufte Virus-Variante aus Großbritannien ein Paket aus 17 verschiedenen Mutationen beinhaltet. Die in Südafrika aufgetauchte Mutation, 501.V2 bezeichnet, hat immerhin noch acht verschiedene Mutationen angehäuft. Eigentlich, sagt Richard Neher von der Universität Basel, kommt das Coronavirus im Schnitt nur auf zwei Mutationen im Monat. Beide Varianten haben sich unabhängig voneinander entwickelt, ähneln sich aber. Nun könnte man das für ein akademisches Problem halten. Ist es aber nicht.

Weshalb der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité die zwei Virus-Mutanten auf die „Sorgenliste“ gesetzt hat. Denn: Sie scheinen viel ansteckender als die bisher bekannten Virus-Varianten zu sein. Weil das sogenannte Spike-Protein, also die bekannte stachlige Oberfläche, leichter als bisher an die menschlichen Zellen andocken kann. Ob nun etwa B.1.1.7 dabei 50 oder gar 70 Prozent ansteckender ist, darüber wird noch gerätselt. Fakt ist, sagt Neher, dass sie in England und Südafrika jeweils die dominante Corona-Variante geworden sind. Und das verheißt nichts Gutes. Zumal zumindest die englische Mutation bereits in 45 Ländern nachgewiesen wurde, auch in Deutschland – zumeist eingeschleppt von einzelnen Großbritannien-Rückkehrern. In Dänemark jedoch beginnt B.1.1.7 bereits, sich auszubreiten. Mitte November sind dort die ersten Fälle der Mutation aufgetaucht – und werden nun bereits regelmäßig seit Anfang Dezember erfasst.

Und das ist es, was Wissenschaftlern Sorge bereitet. Ist die Mutation einmal im Land, werde es aller Voraussicht nach ungleich schwerer, „die Pandemie bis zur ausreichenden Durchimpfung der Bevölkerung zu kontrollieren“, so der Mikrobiologe Michael Wagner von der Universität Wien. Richard Neher erwartet, dass die englische Variante in Deutschland bereits Anfang nächsten Monats so häufig sein dürfte, dass sie „merklichen Einfluss“ auf die Fallzahlen haben könnte.

Deutlich wird das Problem an der sogenannten Reproduktionszahl, kurz R-Wert genannt. Die liegt laut Robert-Koch-Institut aktuell bei 1,18. Das heißt, dass 100 Infizierte rein rechnerisch 118 weitere Menschen anstecken. Laut RKI-Vize Lars Schaade sollte die Zahl möglichst „bei 0,7 oder noch niedriger“ liegen, um die Verbreitung des Virus spürbar zu verlangsamen. Wenn der R-Wert der Mutationen aber tatsächlich bei 1,5 oder höher liegen sollte, so der Virologe Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, habe das auf mehrere Wochen hochgerechnet „eine extreme Auswirkung auf die Gesamtzahl der Infektionen“. Die reine Tatsache, dass mehr Personen erkrankten, führe „unweigerlich dazu, dass es mehr Todesfälle beziehungsweise mehr belegte Betten gibt“. Auch für Christian Drosten wäre ein solch hoher R-Wert, wenn er sich bewahrheiten sollte, schlimm – „dann haben wir ein richtiges Problem“. Der Londoner Epidemiologe Adam Kucharski hat vorgerechnet, dass ein 50 Prozent ansteckenderes Virus im Monat über zehn Mal mehr zusätzliche Menschenleben kostet als ein gleich ansteckendes Virus, das 50 Prozent tödlicher verläuft.

Dass man in Deutschland bisher wenig über das tatsächliche Ausmaß der B.1.1.7-Verbreitung weiß, hängt damit zusammen, dass man das vollständige Erbgut der bei Corona-Tests entdeckten Viren selten entschlüsselt. Ganz anders in Dänemark und Großbritannien, wo man zwölf Prozent beziehungsweise fünf Prozent aller Tests einer genomischen Analyse unterzieht, die aufwendig und teuer ist. Deutschland kommt auf 0,2 Prozent. Was sich ändern soll. Das Bundesgesundheitsministerium bereitet jetzt eine Verordnung vor.

Fakt aber ist, dass es auch in England „nur ein Zufall war“, so Isabella Eckerle von der Universität Genf, dass B.1.1.7 entdeckt wurde – nämlich bei einem PCR-Test. Der Test eines dort häufig verwendeten Herstellers sucht nach drei Genen des Virus, während man sich sonst auf zwei Gene beschränkt. Und dabei kam plötzlich heraus, dass es Testergebnisse gab, wo nur zwei der drei Gene positiv waren.

Für Isabella Eckerle bedeuten die Erkenntnisse: Man müsse in der Einhaltung der Corona-Regeln „noch konsequenter sein“, um die Weiterverbreitung zu reduzieren. Letztlich könne man auf das breitflächige Impfen setzen, „aber das dauert noch“. Die gute Nachricht ist: Die zugelassenen Impfstoffe scheinen zunächst trotzdem zu wirken, wobei sich aber allem Anschein nach die Vakzine mit der südafrikanischen Variante schwerer tun könnten, und deshalb vielleicht angepasst werden müssen. Für Andreas Bergthaler ist das alles „ein Weckruf. Denn es wird nicht die letzte Variante sein, die uns begegnet.“

Die Zelle als Kopierer

Mutationen sind zunächst einmal ganz normal. Viren verändern sich, wenn sie sich vermehren. Wobei sie sich nicht selbst vermehren können. Das gilt auch für Sars-Cov-2. Hat ein Coronavirus eine menschliche Zelle „gekapert“, zwingt es diese vielmehr, Corona-Kopien herzustellen. Dabei treten immer wieder kleine Kopierfehler auf, die den genetischen Code des Virus verändern, es mutiert. Das Coronavirus hat ein Genom, das rund 30 000 Buchstaben lang ist, und eigene Eiweißstoffe. Beim Kopiervorgang dieser Buchstaben des Erbgutes, das die Form eines langen RNA-Stranges hat (RNA steht für Ribonukleinsäure), entstehen Fehler. Da werden Buchstaben vertauscht, falsch geschrieben oder gelöscht. Zuständig für diese Vervielfältigung ist ein Enzym namens Polymerase, quasi die virale Kopiermaschine. Befallen die frisch mutierten Viren einen neuen Menschen, können bei ihrer Vermehrung natürlich erneut Fehler passieren, die zu den alten hinzukommen. Varianten gibt es so bereits hunderttausendfach.

Werden immer mehr Menschen infiziert, steigt die Häufigkeit von Mutationen. Dabei kommt es auch zu Virus-Formen, die sich besser übertragen lassen als andere – und deshalb ihre Virus-Geschwister in der Ausbreitung überholen. Eine Mutation kann also durchaus die Verbreitung des Erregers beschleunigen, den Krankheitsverlauf verschlimmern, die Wirksamkeit von Impfstoffen und Medikamenten beeinträchtigen – oder auch ganz im Gegenteil, das Virus harmloser machen. Letztlich ist das fehlerhafte Kopieren eine Stärke des Virus, weil es sich so rasch auf eine neue Umgebung einzustellen vermag. Und damit etwa den Antikörpern, die der menschliche Körper gegen die Eindringlinge bildet, entwischen kann. Das Ganze folgt allerdings keinem Plan, es passiert zufällig. Ob sich eine mutierte Variante durchsetzt, hängt von äußeren Umständen ab.

Bisher sah es so aus, als ob bei Sars-Cov-2 die Veränderungsrate nur halb so groß wie die von Influenza-Viren ist, für die ja jährlich der Impfstoff geändert werden muss. Bisher schienen sich auch Verbreitungsfähigkeit und Gefährlichkeit nicht signifikant verändert zu haben. Zumindest bei der Verbreitung scheint das mit den Mutationen aus England und Südafrika nun anders auszusehen.

Briten nehmen Regeln locker

Die Covid-Lage in Großbritannien sieht düster aus. Am Freitag hatte man eine traurige Rekordmarke aufgestellt, als gemeldet wurde, dass 1325 Briten an Covid-19 verstorben waren. Das sind 101 Tote mehr als der bisherige Spitzenwert vom 21. April letzten Jahres auf dem Höhepunkt der ersten Welle, an dem 1224 Menschen starben.

Soviel ist sicher: Die zweite Welle wird schlimm. Bisher beklagt Großbritannien mehr als 80 000 Corona-Opfer, doppelt soviel wie in Deutschland. Täglich kommen durchschnittlich rund 60 000 Neuinfektionen dazu, Tendenz steigend. Dem staatlichen Gesundheitssystem NHS droht der Kollaps. Der Bürgermeister von London Sadiq Khan hat am Freitag für die Haupststadt den Notfall ausgerufen, denn die Sieben-Tage-Inzidenz liegt dort bei mehr als 1000 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. In den Außenbezirken von Barking oder Dagenham haben sich sogar mehr als fünf Prozent der Bürger an Covid-19 angesteckt.

Die Regierung hatte einen erneuten nationalen Lockdown verhängt, der laut Gesetz bis 31. März dauern kann. Es ist schon der dritte Lockdown und findet dennoch allgemeine Zustimmung wie Meinungsumfragen zeigen. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zum ersten Lockdown vom Ende März letzten Jahres, als die Briten tatsächlich folgsam der amtlichen Weisung gehorchten und zu Hause blieben. Diesmal treffen viele ihre eigene Risikoabschätzung und entscheiden, dass ein wenig Regelübertretung in Ordnung ist. Amtliche Statistiken zeigen, dass diesmal fast doppelt soviel Menschen unterwegs sind – sowohl im Auto wie zu Fuß – als zu Beginn des ersten Lockdowns.

Den Wissenschaftlern macht das Angst. Denn wenn die Kontaktsperren nicht befolgt werden, besteht immer weniger Aussicht, die Pandemie eindämmen zu können. Daher werden die Stimmen lauter, noch strengere Restriktionen einzuführen. Chris Whitty hatte sich am Sonntag in einem leidenschaftlichen Appell an die Briten gewandt und sie aufgefordert, alle Kontakte zu vermeiden. „Jede unnötige Interaktion“, schrieb der Chef-Mediziner in der Sunday Times, „könnte das Glied in einer Kette von Übertragungen sein, an deren Ende eine gefährdete Person steht.“ Jochen Wittmann

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Erstellt:
12.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 23sec
zuletzt aktualisiert: 12.01.2021, 06:00 Uhr

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