Tübingen · Gesundheitstag

Zwei Mütter und eine Affäre

Für Stephanie Wolf aus Entringen fühlt sich das Leben nach ihrer Leukämie-Erkrankung immer noch nicht selbstverständlich an. Elf Jahre danach ist auch für Oliver Wolf die Vergangenheit noch sehr präsent.

15.11.2019

Von Ulla Steuernagel

Stephanie und Oliver Wolf aus Entringen genießen ihr Glück. Vor elf Jahren wurde bei Stephanie Wolf eine akute Leukämie diagnostiziert. Sie hat sie überstanden. Bild: Ulla Steuernagel

Stephanie und Oliver Wolf aus Entringen genießen ihr Glück. Vor elf Jahren wurde bei Stephanie Wolf eine akute Leukämie diagnostiziert. Sie hat sie überstanden. Bild: Ulla Steuernagel

Nachsorge heißt nicht, dass man die Zeit der Sorgen hinter sich gelassen hat. Aber bei Stephanie Wolf aus Entringen und ihrer Familie haben die Sorgen deutlich nachgelassen. Elf Jahre sind nun seit der Krebserkrankung der 42-Jährigen vergangen. Elf Jahre mit einigen Aufs und Abs, doch mit klarer Aufwärtstendenz. Die zweifache Mutter und Ehefrau strahlt Zuversicht und Lebensfreude aus. Und sie scheut sich nicht, über die schwere Zeit, die hinter ihr liegt, zu reden. Sie wurde schon oft gefragt; sie kennt die Fragen, sie kennt die Antworten. Doch die Sätze sprechen sich nicht so dahin, man merkt, wie viel Leben in ihnen steckt. Alles scheint, wie gerade erst passiert. Stephanie Wolf hatte Glück und eine gute medizinische Versorgung, nun will sie auch anderen in ähnlicher Lage Mut machen. Ihre Botschaft ist klar: Lasst den Kopf nicht hängen, man kann auch mit Krebs überleben – und zwar gut.

Eigentlich war Stephanie Wolf mit ihrer Leukämie ein statistischer Ausrutscher. Mit knapp 31 Jahren war sie eine Ausnahmeerscheinung in diesem Bereich der Onkologie. Entweder trifft die bösartige Bluterkrankung Kinder und Jugendliche oder Menschen ab 60 Jahren. Die Diagnose erwischt jedoch jede und jeden – egal in welchem Alter – immer unerwartet und schockartig.

Wolf hatte vorher zwar schon gemerkt, dass sie nicht mehr so leistungsfähig war wie früher, sie fühlte sich schlapp, litt an Atemnot, doch bei einer Mutter von zwei kleinen Kindern (damals 2 und 6 Jahre), die abends oft noch im Restaurant im Service arbeitete, hätten es auch einfach Anzeichen von Übermüdung und Überarbeitung sein können. Wie sich sehr bald herausstellte, hatte ihr körperlicher Zustand andere Gründe. „Es war ein Samstag im September 2008“, erinnert sie sich, als wäre es gestern gewesen. „Wir saßen auf einer Holzbank auf der Terrasse.“ Am nächsten Tag bemerkte sie „ein Riesen-Hämatom“ am Oberschenkel. Beim Anblick dieses blauen Flecks „läuteten bei mir gleich die Alarmglocken“, sagt Wolf. Warum das? „Ich habe immer die Carreras-Gala geschaut“, erklärt sie lachend. Der Sänger gründete, nachdem er selber die Erkrankung überstanden hatte, eine Stiftung zur Erforschung und Heilung von Leukämie und wirbt mit seiner Gala hohe Spendensummen ein.

Ihr Hausarzt war ebenfalls alarmiert und schickte die junge Frau sofort in die Tübinger Uniklinik. Dort wurde akute Leukämie diagnostiziert und die Patientin gleich dabehalten. „Ich hab noch in der Klinik verhandelt und gesagt, so tot fühl‘ ich mich gar nicht.“ Wolf dachte nämlich vor allem an ihre Tochter, die in diesen Tagen eingeschult werden sollte. Die Antwort war knallhart: „Wenn wir nicht gleich mit der Behandlung anfangen, sind Sie in den nächsten drei Tagen nicht mehr da.“ Sie habe gar nicht so mit der Frage gehadert, warum es ausgerechnet sie treffe, für sie war in diesem September ein Gedanke viel drängender: Warum bloß ausgerechnet jetzt?

Ihre Behandlung bestand aus drei Chemo-Blöcken und danach musste sie noch zwei Jahre lang Tabletten einnehmen. Es stellten sich all die gefürchtet unangenehmen Nebenwirkungen ein, mal war die Mundschleimhaut so entzündet, dass sie kaum Suppe essen konnte, dann fing sie sich eine Pilzinfektion an der Lunge ein. Eine der schlimmsten Nebenwirkungen war jedoch für sie, wenn sie wegen akuter Infektionsgefahr ihre Kinder nicht sehen durfte. Auch der zweijährige Philipp litt sehr darunter, dass seine Mutter plötzlich weg war.

Insgesamt hätten sie noch Glück gehabt, sagt Oliver Wolf. Und korrigiert dann: „Glück im Unglück!“ Die Haushaltshilfe wurde von der Krankenkasse schnell bewilligt – und auch gefunden. Später konnte die Großmutter der Kinder einspringen. Der Arbeitgeber des gelernten Kochs, der damals bei der „Deutsche See“ im Fischhandel arbeitete, war kulant, die Verwandten unterstützten, so sie konnten, die Freunde halfen, wo immer es ging. Und dann war da eben diese absolut unerschrockene Patientin, die, als der dritte Chemoblock ungünstig zum Geburtstag der Tochter lag, sagte: „Theresa kriegt ihren Kindergeburtstag!“

Trotz solcher Entschlossenheit – ihr Mann sagt über seine Frau: „Sie ist eine Kämpferin!“ – fehlte der Leukämie-Patientin etwas. Sie merkte es erst, als sie 2010 auf die Tübinger Selbsthilfegruppe für Leukämie, Lymphom und Multiples Myelom stieß. „Ich wäre froh gewesen, es wäre jemand in ähnlicher Situation von Anfang an dagewesen!“ Als Schwerkranker fühle man sich als Außenseiter, der Austausch mit anderen in ähnlicher Situation gebe einem die Normalität zurück. Die große Unterstützung, die sie erfahren habe, will Stephanie Wolf durch ihre Mitarbeit in der Gruppe (sie ist Stellvertretende Vorsitzende) nun auch anderen zurückgeben. „Wie anstrengend das alles war, das kommt einem erst hinterher in den Sinn.“

Oliver Wolf engagiert sich indes in der Initiative „Hilfe für Kinder krebskranker Eltern“ (Kike). „Der Austausch war für mich unheimlich wichtig!“ Auch die Krebsberatungsstelle habe ihm sehr geholfen. Oft werde zu wenig an die Angehörigen gedacht, die den Partner leiden sehen und gleichzeitig mit ihrer Hilflosigkeit und Angst klarkommen müssen. Und die Kinder? Sie reagierten anders als Erwachsene. Sie leiden anders und reifen schneller als ihre Altersgenossen. Tochter Theresa habe die Unterschiede im Umgang ihres kleinen Bruders und sich mit der Erkrankung der Mutter einmal glasklar so formuliert: „Ich kenne zwei Mamas, eine vorher und eine nachher. Aber Philipp kennt nur eine Mama.“

Der Rezidiv-Alarm vor vier Jahren entpuppte sich als Fehlalarm. Stephanie Wolf scheint über den Berg, auch wenn die Krankheit, nicht nur durch reduzierte körperliche Belastungsfähigkeit, präsent bleibt. „Die Erkrankung ist der dritte Partner in der Ehe, so als hätte meine Frau eine Affäre“, sagt Oliver Wolf lachend. Manche Beziehungen erholten sich nie von einer solchen Lebenskrise. Für die Wolfs sieht es anders aus. Sie regen sich nicht mehr so über Kleinigkeit auf, finden sie. Sie leben intensiver. Schleift sich das nicht mit der Zeit ab? „Nee“, antworten beide wie aus einem Mund.

„Den Krebs überlebt“ ist das Thema des Gesundheitstages

Kommenden Donnerstag lädt das Tübinger Uniklinikum zusammen mit dem TAGBLATT wieder zur Informationsveranstaltung ins Sparkassen Carré. „Den Krebs überlebt“ ist diesmal das Thema, zu dem die Expertenrunde aus Medizinern, einer Betroffenen und einer Sozialpädagogin kurze Vorträge hält und Fragen aus dem Publikum beantwortet. Über die chronische Erkrankung Krebs spricht Prof. Daniel Zips, Radioonkologe und Vorsitzender des Comprehensive Cancer Center (CCC). Mit den Langzeitfolgen befasst sich Prof. Andreas Hartkopf, Sprecher des CCC im Bereich Gynäkologie. Petra-Alexandra Buhl ist Betroffene, Autorin und Coach. Reza Arbabi beschreibt die Langzeit-Nachsorge aus Sicht des niedergelassener Urologen. Sozialpädagogin Heike Werner hat den Wiedereinstieg in der Beruf – trotz und nach Krebs – im Blick. Und schließlich geht es auch um die „Angst vor dem Rezidiv“. Damit befasst sich der Leiter der Psychoonkologie Prof. Andreas Stengel. Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr, Einlass ab 18 Uhr. Im Foyer stehen viele Info-tische bereit. Wer Fragen einschicken will, die Moderator Ulrich Janßen dann während des Abends verliest, kann dies unter service@tagblatt.de tun.

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Erstellt:
15.11.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 36sec
zuletzt aktualisiert: 15.11.2019, 01:00 Uhr

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