Wegen Corona über Lautsprecher

Ramadan in Rottenburg: Zwei Minuten bei Sonnenuntergang

Als eine von wenigen Städten in Deutschland erlaubt Rottenburg im muslimischen Fastenmonat Ramadan die Lautsprecher-Übertragung des abendlichen Gebetsrufs.

30.04.2020

Von Michael Hahn

Der neue Rottenburger Imam (Vorbeter) Saban Yilmaz ruft zum Abendgebet. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Der neue Rottenburger Imam (Vorbeter) Saban Yilmaz ruft zum Abendgebet. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Es ist 20 Uhr. Die letzten Kunden und Mitarbeiter verlassen den islamischen Ikram-Supermarkt neben der Rottenburger Moschee, gegenüber von der Agip-Tankstelle. Sie wollen rechtzeitig zum rituellen Fastenbrechen bei Sonnenuntergang zu Hause sein. Nur der Imam (Vorbeter) Saban Yilmaz und Mücahit Semetoglu, der Vorsitzende des Rottenburger Moschee-Vereins, stehen noch im Hinterhof. Auf einem Flyer suchen sie die rechnerische (astronomische) Uhrzeit des Sonnenuntergangs: 20.39 Uhr. Die Sonne ist da schon längst im Westen hinter der Rottenburger Skyline (konkret: hinter der Morizkirche) verschwunden. Die Mondsichel steht hoch am Himmel.

Yilmaz und Semetoglu gehen hinein. Sie sind an diesem Abend die einzigen Menschen im Gebetsraum der Moschee in der ehemaligen „Schäftefabrik Ruckgaber“. Draußen, unter dem Dachgiebel, hängt ein großer Lautsprecher. Zunächst knackt und knarzt es ein paar Mal, doch pünktlich um 20.39 Uhr erklingt die Stimme von Saban Yilmaz laut und klar: „Allahu akbar“, Gott ist groß.

Beschallt wird der Kreisverkehr

Zwei Minuten dauert der Gebetsruf (siehe Infobox). Der Klang dürfte bis hinüber zum Schänzle zu hören sein, aber so richtig beschallt werden eigentlich nur die Agip-Tankstelle, der Kreisverkehr und der Schlachthof. Direkte Anwohner gibt es nur wenige.

Allerdings will der Moschee-Verein noch weitere Lautsprecher beschaffen, um auch andere Himmelsrichtungen beschallen zu können, sagt Ümit Arslan. Der 32-jährige Speditionskaufmann hat keine offizielle Funktion im Trägerverein der Moschee, aber dient häufig als Ansprechpartner für deutschsprachige Institutionen und für die Presse. Vor sechs Jahren kandidierte er auf der CDU-Liste zum Rottenburger Gemeinderat.

Arslan wohnt in der Sprollstraße. Dort könne man vom Gebetsruf nichts mehr hören, sagt er, und das sei auch okay so. Man wolle ja nicht die ganze Stadt beschallen. Er sei der Rottenburger Stadtverwaltung sehr dankbar, dass sie die Außenübertragung des Sprechgesangs während des Fastenmonats Ramadan überhaupt erlaubt hat.

Ruf zum Abendgebet über den Dächern von Rottenburg
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02:08 min
Video: Hans-Jörg Schweizer
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„Das ist wie ein Ramadan-Geschenk für uns“, sagt Arslan. Er versteht die Erlaubnis als Signal, dass die Stadt den corona-bedingten Verlust anerkennt, den die Rottenburger Muslime während ihres Fest-Monats besonders schmerzhaft spüren. Die Stadtverwaltung nannte ihre Erlaubnis eine „besondere und einmalige Geste gegenüber den muslimischen Gläubigen“ (wir berichteten).

Normalerweise würden sich zum Ramadan-Gebet Dutzende Männer in der Rottenburger Moschee versammeln, manchmal auch bis zu 200. Immer zu Sonnenuntergang wird die tagsüber auferlegte Enthaltsamkeit feierlich gebrochen, mit Gebet und leckerem Essen – entweder gemeinsam in der Moschee oder zu Hause mit der Verwandtschaft. Der Ramadan endet mit dem Zuckerfest am 23. Mai.

Fastenbrechen im kleinen Kreis

Doch in diesem Jahr ist alles anders. Wegen Corona sind auch in den Moscheen gemeinsame Gottesdienste und andere Feiern verboten. Das rituelle Fastenbrechen wird nun in den (Klein-)Familien gefeiert. Meist spricht das älteste männliche Familienmitglied das Gebet, dann wird gegessen. Auch das gemeinsame Zuckerfest in der Moschee werde man in diesem Jahr wohl absagen müssen, sagt Arslan. Selbst wenn in drei Wochen wieder Gottesdienste erlaubt sein werden – ein gemeinsames festliches Essen wäre wohl „zu riskant“, findet der 32-Jährige. „Das könnten wir vor Gott nicht verantworten.“

Bisher seien im Türkisch-Deutschen Freundschaftsverein (so heißt der Trägerverein der Moschee) keine Corona-Fälle bekannt. Nach jahrelangen Provisorien haben die Rottenburger im Februar einen festen Imam aus der Türkei geholt. Die rechtsnationalistische Türkische Föderation (mit Sitz in Frankfurt), die vor 15 Jahren den Rottenburger Verein ins Leben gerufen hat, habe keine Rolle gespielt bei der Auswahl, sagt Arslan auf Nachfrage. Der neue Imam Saban Yilmaz ist Rentner und macht die Tätigkeit ehrenamtlich; der Verein sorgt für Unterkunft und Verpflegung.

Filmen aus dem Autofenster

Bei Oberbürgermeister Stephan Neher seien einige kritische Mails wegen der Gebetsrufe eingegangen, sagt die städtische Pressesprecherin Birgit Reinke. „Aber nichts Unflätiges. Dazu gibt es verschiedene Meinungen, und das ist auch gut so.“ Der evangelische Pfarrer Tilman Just-Deus hatte bis Dienstag noch gar nichts mitbekommen von den Gebetsrufen, sagte er auf Nachfrage. Im Prinzip habe jede Religionsgemeinschaft das Recht, öffentlich zu ihren Gebeten und Gottesdiensten einzuladen.

Den Gebetsruf selbst hören an diesem Abend nur wenige. Kurz vor Sonnenuntergang parkt noch ein Audi auf dem leeren Parkplatz. Ein bosnisches Paar steigt aus. Normalerweise würden sie sonst nicht in die Moschee kommen, sagt der Mann, aber den Gebetsruf in Rottenburg mal öffentlich und live zu hören, das wollte er sich doch nicht entgehen lassen. Die beiden nehmen das Ganze mit ihren Handys auf.

An der Agip-Tankstelle auf der anderen Straßenseite sitzen zwei ältere Männer und filmen. Und zwei oder drei Autos mit jungen Leuten fahren vorbei. Die Beifahrer/innen halten freudestrahlend ihre Smartphones aus dem offenen Fenster. Anhalten (oder gar zum Gebet innehalten) ist aber nicht angesagt. Die meisten Autofahrer scheinen den Gebetsruf nicht zu bemerken.

Kurz darauf kommen Yilmaz und Semetoglu aus der Moschee. Sie schließen ab und machen sich über die Keppler-Brücke auf den Heimweg, zum Fastenbrechen.

Der tägliche Gebetsruf „Adhan“

Gläubige Muslime sind fünf Mal täglich zum Gebet aufgerufen. Der Gebetsruf (nicht das Gebet selbst) dauert etwa zwei Minuten. In islamisch geprägten Ländern erklingt er meist vom Minarett (Turm) der Moschee, entweder leibhaftig durch den Muezzin, oder – heutzutage häufiger – per Lautsprecher.

In Deutschland ist dies nur in wenigen Städten erlaubt. Die jeweiligen Moschee-Gemeinden mussten dieses Recht erst gerichtlich durchsetzen. Üblicherweise wird der Gebetsruf mit Hinweis auf das Immissionsschutzgesetz (Lärmbelastung) untersagt.

Der Ruf besteht aus sechs oder sieben Glaubenssätzen, die meist mehrfach gesprochen oder gesungen werden. Der Morgen-Appell enthält auch den Satz: „Das Gebet ist besser als Schlaf.“ Die Sprache ist Arabisch – auch in ansonsten türkisch geprägten Gemeinden wie derjenigen in Rottenburg.

Laut Wikipedia haben manche Gemeinden in der Corona-Krise den traditionellen Gebetsruf an einer Stelle umformuliert. Nun heißt es nicht mehr „Eilt zum Gebet“ (hayya ala s-salat), sondern: „Betet in euren Häusern“. Der Rottenburger Vorbeter Yilmaz verwendet allerdings die konventionelle Formulierung.

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Erstellt:
30.04.2020, 04:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 00sec
zuletzt aktualisiert: 30.04.2020, 04:00 Uhr

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