Ein Stück Heimat

Zur Eröffnung der Vesperkirche sprach Ahmed Güler über sein Kirchenasyl vor 15 Jahren

Er hatte ein mulmiges Gefühl, und begann seine Rede mit belegter Stimme: Ahmed Güler, 34, hat gestern im Eröffnungsgottesdienst zur siebten Tübinger Vesperkirche den Blick zurück auf jene Zeit gerichtet, in der er als 20-Jähriger mit seinen Eltern und zwei Schwestern im Kirchenasyl der Martinskirche ausharrte – 30 lange Monate lang.

25.01.2016

Von Christiane Hoyer

Die Martinskirche in der Frischlinstraße 35 ist bis 20. Februar wieder zur Vesperkirche umfunktioniert. Zur Eröffnung gestern kamen 400 Besucher. Bilder: Metz

Die Martinskirche in der Frischlinstraße 35 ist bis 20. Februar wieder zur Vesperkirche umfunktioniert. Zur Eröffnung gestern kamen 400 Besucher. Bilder: Metz

Tübingen. Es ist nun über 15 Jahre her, dass die Gülers im August 2000 Zuflucht im Mesnerhaus der Martinskirche fanden. Der damals 19-jährige Ahmet sollte mitten in seiner Ausbildung als Heizungsbauer zusammen mit den beiden Schwestern und den Eltern in die Türkei abgeschoben werden – dorthin, wo seine Eltern als Aleviten aus Kurdistan Folter und politische Verfolgung erlitten hatten.

Das Kirchenasyl „war eine der schwierigsten Zeiten für unsere Familie“, berichtete Güler gestern. Denn sie hätten „oft nicht gewusst, wie es weitergeht“. Die Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland – sie ist auch aktuell für viele Menschen aus Nahost der Antrieb, um hierher zu fliehen. Ob die Flucht zum Fluch oder zum Segen wird, thematisierte Diakon Peter Heilemann in seiner Predigt, die der Tübinger Asylrechtsanwalt Manfred Weidmann und zwei Ehrenamtliche aus den Asyl-Unterstützerkreisen zum Thema „Flüchtlinge unter uns“ mitgestalteten.

Auch die Bibel, so Heilemann „ist eine Zeltstadt voller Flüchtlinge“. Sie erzählt Geschichten von Menschen, die aus ähnlichen Motiven flüchteten wie heute: Flucht aus Angst vor Ermordung, Flucht aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen. Josef, Maria und Jesus waren auf der Flucht, Kain und Ruth flohen und noch viele andere biblische Figuren. „Es gibt in der Bibel kaum ein Menschenkind ohne Migrationshintergrund“, so Heilemann. Wer fliehe, den treibe die Hoffnung an, dahinter stecke aber der Fluch vor Vertreibung. Damit die Ankunft zum Segen werden könne, appellierte Heilemann daran, „Verzicht zu üben, um Asyl zu gewähren“. Er kam auf die zunehmender Anfeindungen auch in Deutschland zu sprechen – und auf politische Aussagen. „Es kann doch nicht sein, dass die schwarze Null im Haushalt wichtiger ist“, so Heilemann.

Bei Ahmed Güler und seiner Familie hat es lange gedauert, bis sie einen sicheren Aufenthaltsstatus bekam. Einen ganzen Ordner voller Zeitungsberichte und politischer Aktionen hat der heute 34-Jährige von jener Zeit gesammelt, als Gülers nur in Begleitung von Betreuern das Areal der Martinskirche verlassen durften und nicht sicher war, ob sie in Deutschland bleiben durften. 1993 wurde das Asylrecht verschärft, eine Härtefallkommission für Fälle wie Gülers gab es erst ab 2005. Ahmed Güler kennt etliche kurdische Familien, die damals abgeschoben wurden. Er selber bedankte sich gestern im Gottesdienst für die Unterstützung des freiwilligen Helferkreises. „Ohne sie“, sagte er unter Klatschen, „wären wir sicher nicht mehr in Tübingen.“ Ahmed Güler ist nach dem Kirchenasyl in verschiedenen politischen Gruppen aktiv geworden. Bis heute setzt er sich „gegen den wachsenden Rassismus“ ein – und zählt nicht erst seit gestern zu den Solidaressern in der Tübinger Vesperkirche.

Nach dem Gottesdienst warteten um 11 Uhr schon die ersten Gäste aufs Essen. Bis 11.45 Uhr füllten sich recht schnell die Tische mit Besuchern. Auch spontane Helfer boten noch ihre Unterstützung an. Doch gestern war Anke Becker mit Freiwilligen schon ausgebucht. Als die ersten Tabletts mit Gulasch und Spätzle serviert wurden, kam allmählich Ruhe ins Vesperkirchen-Getriebe.

Zu den Stammgästen zählt der 56-jährige Klaus Rahlf. All die Jahre, berichtet er lachend, habe er nur zwei Essenstage in der Martinskirche versäumt. Ansonsten erzählt er von der „Vorfreude“ auf die vierwöchige Vesperkirchen-Zeit in der Martinskirche. „Es ist ein Stückchen Heimat“, findet er.

In den ersten drei Jahren hat Rahlf selber auch mitgeholfen. Doch jetzt geht das aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Er erinnert sich aber noch daran, wie er einigen Junkies Grießbrei mit Früchten serviert hat. „Manche haben angefangen zu weinen“, erinnert er sich. Denn die Süßspeise habe sie „an eine der wenigen positiven Erlebnisse in ihrer Kindheit erinnert“.

Rahlf erinnert sich auch noch an Rolf Schempp – ein weiterer Stammgast in der Vesperkirche, der immer mit seinem Rucksack auf dem krummen Rücken in die Frischlinstraße kam. Im Juni 2013 starb er nach einer Lungenentzündung. Bei seiner Beerdigung waren viele Vesperkirchenbesucher“, sagt Rahlf. Im Gästebuch der Vesperkirche hat das Leitungsteam ein Foto des Verstorbenen eingeklebt, und es gibt manchen Eintrag dazu. „Die Atmosphäre der Wertschätzung“ ist es, die Klaus Rahlf alljährlich wieder in die Vesperkirche zieht – und seine bescheidenen finanziellen Verhältnisse: Er lebt von Grundsicherung. Zum Auftakt er Vesperkirche kamen gestern zirka 400 Besucher.

Achmed Güler

Achmed Güler

Vesperkirche sucht noch einen Friseur

Essensausgabe: 11.45 bis 14 Uhr in der Martinskirche (Frischlinstraße 35).

Kuchentheke: Ab 12 Uhr gibt‘s an der Kurchentheke frisch gebackenen Kuchen. Private Kuchenspenden sind jederzeit willkommen.

„Tagestupfer“: Um 13 Uhr gibt’s täglich eine kurze Besinnungszeit.

Essens-Spende: Wer in der Vesperkirche isst, gibt eine Spende in die Dose auf dem Tisch.

Das Leitungsteam sucht noch einen Frisör, der mittwochs kostenlos Haare schneidet. Angebote an Anke Becker (0 70 71/ 930412).

Heutiges Programm: 11.30-14.30 Uhr: Friseurin Anja Murrmann und Team; 14.15 Uhr: Gespräch mit Karola Vollmer und Eveline Schirott: „Geschichten, die das Leben schrieb“.