Zum Schluss eine weiße Rose

Bürgerentscheid über Gewerbegebiet Herdweg: Hunderte kamen zum Podium

Eine sehr sachliche Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern eines neuen Gewerbegebietes „Herdweg“ erlebten rund 350 Zuhörer/innen am Dienstagabend in der Festhalle.

04.10.2018

Von Ulrich Eisele

Hunderte bei Diskussion über Gewerbegebiet in Kiebingen
02:18 min
Soll das Gewerbegebiet Herdewg in Kiebingen geplant werden oder nicht? Darüber stimmen die Rottenburger am 21. Oktober in einem Bürgerentscheid ab. Zur Podiumsdiskussion in der Rottenburger Festhalle kamen Hunderte. Video: Franke/Schweizer/Bleeser

Moderiert von Verena Wodtke-Werner, der Direktorin der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, stellten die sechs Podiumsteilnehmer ihre Sicht der Dinge in vielen kurzen Statements dar. Bei der Publikumsrunde blieben Konfrontationen aus. Die Zuhörer bekamen zwar eine gute Übersicht über die meisten in der Diskussion befindlichen Argumente, doch wenig Anhaltspunkte für eine Entscheidung. Friedlich möge es zugehen, mahnte Wodtke-Werner zu Anfang. Keine der beiden Seiten lehne Gewerbeentwicklung voll ab. Nur die Vorstellungen vom Weg dorthin seien verschieden.

Gesellschaft im Wandel

Auf den Wandel der Gesellschaft – Stichworte: Digitalisierung und Überalterung – wies Michael Lucke in seinem Eingangsbeitrag hin: „Wir müssen genau überlegen, welche Wirtschaft wir unter diesen Umständen brauchen und fördern“, sagte der ehemalige Tübinger Finanzbürgermeister und Mitgründer der Kiebinger Dorfgemeinschaft. Beate Schulz vom Vorstand der Steuerberatung Auren  warb dafür, „leben und arbeiten und einkaufen“ näher zusammenzubringen. Stefan Ruge, Botanik- und Waldbau-Professor an der Fachhochschule, meinte, in Zeiten des Klimawandels und zunehmender Umweltkatastrophen könne man die Landwirtschaft nicht dem Ausland überlassen. „Wir müssen die globalen Probleme auch in der Kommune lösen.“

OB Stephan Neher vertrat die Gemeinderatsposition: Ohne neues Gewerbegebiet gehe es nicht, die Lasten gelte es, gerecht zu verteilen. Ergenzingen habe „den ersten Aufschlag gemacht“, nun sei ein „kernstadtnahes Gebiet“ dran. Dietmar Lipkow, Geschäftsführer der Evangelischen Landesarbeitsgemeinschaft der Familien-Bildungsstätten, wünschte sich fürs Aktionsbündnis eine „ergebnisoffene Bürgerbeteiligung“ und Entscheidung „auf der Grundlage belastbarer Fakten“. Jens Jasper, Bereichsleiter für Beschäftigung der IHK Reutlingen: Unternehmen in Rottenburg müssten wachsen können. Die IHK sei für den „Herdweg“, kommunale Entwicklung hänge auch vom Gewerbe ab.

15 Auszubildende und Praktikant(inn)en ihres Unternehmens hat Beate Schulz befragt und herausbekommen: Kurze Wege seien ihnen wichtig, die „work-life-balance“ müsse stimmen, und man wolle nicht „draußen auf der grünen Wiese“ arbeiten, sondern in der Stadt, wo das Leben pulsiere.

Jens Jasper hingegen wusste aus einer IHK-Umfrage, dass die Rottenburger Unternehmen mit ihrem Standort unzufrieden seien. Das liege zum Teil an der Stadtverwaltung, zum Teil an fehlenden räumlichen Entwicklungsmöglichkeiten und zu hohen Baulandpreisen.

„Was ist billig? Was ist teuer?“, stellte Neher diese Aussage infrage. In Hechingen oder Balingen sei Bauland zwar billiger, aber damit könne man Rottenburg nicht vergleichen. „Wir leben nun mal im Ballungsraum.“ Mit der Gewerbestrategie verfolge man langfristiges, nachhaltiges Wachstum. „Wir hätten das auch in Salamitaktik machen können“, sagte Neher. Aber er wolle den Leuten von vornherein reinen Wein einschenken.

Ökonomie und Ökologie seien kein Widerspruch, und Landwirtschaft sei auch ein Gewerbe, hielt Ruge dagegen. Dafür gab‘s Szenenapplaus. Der gesamte „Cluster Nahrungsmittelproduktion“ beschäftige in Deutschland 4,5 Millionen Menschen – das sei vergleichsweise „umweltfreundliches Gewerbe“. „Herdweg“-Befürworter würden immer argumentieren, dass das neue Gebiet den Anteil städtischer Gewerbeflächen nur um 0,1 Prozent steigere. Doch das sei wie mit großen Autos – jeder meine, seines sei unschuldig an der Umweltverschmutzung: „Aber die Summe macht es.“

Dann machen es eben andere

Dagegen Neher: Man spare „keinen Hektar“, wenn Rottenburg auf ein Gewerbegebiet verzichte – „weil es dann die Nachbargemeinde macht“. Sulz, Horb – überall sei derzeit etwas in Planung. Die Regionalplanung müsse entscheiden, wo was zulässig sei. „Ich glaube, wir brauchen erst mal eine Strategie, was wir brauchen“, warf Lucke ein. Die stärkste Entwicklung habe es in den letzten Jahren im Dienstleistungssektor gegeben.

Der „Herdweg“ solle ein Baugebiet ähnlich wie „ Höllsteig“ in Ergenzingen werden, präzisierte Stephan Neher auf Nachfrage. Expandierende Handwerksbetriebe, aber auch „Digitales“ sollten dort Platz haben. „Handwerk geht heute nicht mehr in der Garage.“ Der Planungsprozess dauere fünf bis acht Jahre, da müsse man beizeiten anfangen, um für künftige Nachfrage etwas parat zu haben. Einen Seitenhieb gegen Ruge konnte er sich nicht verkneifen: Auch die Hochschule habe expandiert, brauche Flächen, sogar im Außenbereich.

Dietmar Lipkow erinnerte noch einmal an frühere Umweltgutachten, in denen der „Herdweg“ – damals noch „Galgenfeld“ – unter fünf Standorten auf Platz vier rangierte. „Was hat sich seither verändert?“ Auch die Ablehnung des Queck-Areals als Alternative leuchtete ihm nicht ein. Die Industriebrache dort müsse man ohnehin sanieren, und dort würden auch keine Ackerböden verloren gehen. Lipkows Appell für mehr Bürgerbeteiligung griff Jens Jasper auf. Nur scheinbar würden Entscheidungen durch Runde Tische verzögert, meinte er. Hinterher gehe es umso schneller.

Podium zum geplanten Gewerbegebiet Herdweg/Galgenfeld. Bild: Franke

Podium zum geplanten Gewerbegebiet Herdweg/Galgenfeld. Bild: Franke

„Das hört sich jetzt so an, als ob wir bisher keine Bürgerbeteiligung gehabt hätten“, fühlte sich Neher herausgefordert. Dabei habe es schon zwei Stadtentwicklungspläne mit Bürgerbeteiligung gegeben, demnächst den dritten. Irgendwann müsse man auch entscheiden. „Wir leben nicht mehr in einer Monarchie!“, kommentierte die Moderatorin. „Bei uns entscheidet der Gemeinderat!“, parierte Neher.

„Was ist ihr Plan B?“, wollte Verena Wodtke-Werner schließlich von Neher und Lucke wissen. Wenn der „Herdweg“ durch den Bürgerentscheid blockiert werde, „ist die Ähneshalde dran“, sagte Neher. Das sei der Auftrag des Gemeinderats. „Stimmt nicht“, kam es prompt aus dem Publikum. „Das Aktionsbündnis wird sich am 21. Oktober auflösen“, verkündete Lucke. Aber Einzelne würden wohl weitermachen und alle Rechtsmittel ausschöpfen.

Nach einer Pause von zwanzig Minuten ging es um Publikumsfragen – erst um schriftliche, danach um mündliche. Neher wiederholte die Ansicht, das Queck-Areal sei keine Alternative zum „Herdweg“, da nicht kernstadtnah; und außerdem müsste die Allgemeinheit die Kosten für die Altlastbeseitigung übernehmen. Ruge widersprach: Für einen Heizungsmonteur mache es wenig Unterschied, ob er Kunden vom Queck-Areal oder „Herdweg“ aus bediene.

Danach sprang die Diskussion ein wenig zwischen Fragen zum „Auspendler-Einpendler“-Thema und „Wer wird sich im ,Herdweg‘ ansiedeln?“ hin und her. Auf Seiten der Gegner überwog Skepsis, auf der der Befürworter Zuversicht. Michael Lucke etwa bezweifelte, dass sich die Auspendlerströme durch ein neues Gewerbegebiet groß verändern. Höchstens neue Einpendlerströme würden entstehen, meinte Stefan Ruge.

Stephan Neher pries hingegen die Entwicklung in Ergenzingen und nannte viele Beispiele. Unternehmenswachstum sei eben nicht vorhersehbar, aber die Stadt müsse darauf vorbereitet sein. Ergenzingens Ortsvorsteher Reinhold Baur unterstrich dies durch ein Fallbeispiel: Innerhalb einer Woche habe man sieben Hektar Land erwerben müssen, um die Firma Bitzer am Standort zu halten.

Einen originellen Vorschlag brachte Ursula Kuttler-Merz ein: Warum man nicht untersuche, ob sich die ehemaligen Hausmülldeponien östlich und westlich der Seebronner Straße als Gewerbegebiet eignen? Da mussten alle passen: Niemand wusste, wo das ist.

„Wir Mandatsträger“

Als „Schlag ins Gesicht“ empfand CDU-Stadtrat Kurt Hallmayer den ständigen Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung: „Wir Mandatsträger machen das alle ehrenamtlich. Ist das eigentlich nichts wert?“

Nach der Gewerbestrategie des Aktionsbündnisses fragte SPD-Stadtrat Hermann Joseph Steur. Sein CDU-Kollege Horst Schuh bohrte in dieselbe Richtung: „Sollen wir den Rottenburger Auspendler-Saldo schicksalsergeben hinnehmen oder etwas dagegen tun?“, wollte er vom Bündnis wissen. „Die meisten pendeln gar nicht zum Gewerbe, sondern in Dienstleistungen“, hielt ihm Michael Lucke entgegen. Und trumpfte auf: In Kiebingen seien 20 neue Arbeitsplätze in der
Pflegeeinrichtung der Dorfgemeinschaft entstanden. „Das ist nachhaltig in einer alternden Gesellschaft.“

Zum Schluss gab es von der Moderatorin für jeden Podiumsteilnehmer eine weiße Rose – als Friedenssymbol und weil sie sich so fair miteinander auseinandergesetzt hätten.

Stimmen zur Podiumsdiskussion

Verena Wodtke-Werner zitierte zu Beginn aus einem Leserbrief, dessen Schreiberin dazu aufforderte, sich „nicht auf diesem polemischen Niveau auseinanderzusetzen“. Es solle ein sächlicher Wahlkampf sein. Dem stimmten die rund 350 Zuhörer, von denen mindestens ein Viertel aus Kiebingen kam, am Dienstag klatschend zu. Die Podiumsteilnehmer hielten sich daran. Auf Wodtke-Werners Fragen hatten sie sich vorbereitet, ihre Statements schriftlich vor sich liegen.

Reinhold Haspel – und da war er sicher nicht der einzige – hätte sich mehr Kommunikation zwischen den Befürwortern und Gegnern des Gewerbegebiets „Herdweg“ gewünscht. Beide Seiten seien kaum auf die Statements der anderen Seite eingegangen und hätten nur ihre Argumente vorgebracht, sagte er.

„Wenig Neues“, sagten auch andere Zuhörer. Die meisten von ihnen waren schon entschieden, wie sie am 21. Oktober abstimmen werden. Überraschen konnte Oberbürgermeister Stephan Neher mit seiner klaren Aussage zu einem Plan B, falls die Bürger sich mehrheitlich gegen ein Gewerbegebiet im „Herdweg“ aussprechen werden. „Dann wird die ,Ähneshalde‘ angemeldet“, sagte er. So habe es der Gemeinderat beschlossen. Im letzten Punkt des Beschlusses vom 20. März 2018 heißt es „Der Gemeinderat beschließt das Strategie- und Handlungsprogramm (...) mit seinen Prioritäten, Bewertungen und Handlungsempfehlungen“.

Gregor Schmid kam ohne festgelegte Meinung in die Festhalle. Er hatte sich mit dem Thema noch nicht intensiv beschäftigt, sagte er hinterher. „Die geballte Information fand ich gut.“ Die Ausschweifungen in die große Politik hingegen seien entbehrlich gewesen. Eine Konzentration auf lokale Betrachtungen hätte er besser gefunden. Entschieden hat er sich mittlerweile auch: „Ich werde für das Gewerbegebiet stimmen.“

Michael Lucke und OB Neher zogen nach dem Podiumsgespräch Bilanz. Er hätte mehr Besucher erwartet, sagte Neher. Die meisten hätten schon ihre Meinung zum Gewerbegebiet im „Herdweg“ gehabt. Der gelegentliche Beifall zeigte, dass die Gegner in der Überzahl waren. Das Spektrum der Zuhörer habe nicht die Rottenburger Einwohner abgebildet, sagte Neher. Nur wenige waren aus anderen Teilorten gekommen. Die vordringliche Frage müsse nun sein: „Wie bringen wir die Bürger dazu, beim Bürgerentscheid mitzumachen und dieses demokratische Mittel zu nutzen?“ Der Bürgerentscheid habe nur dann einen Wert, wenn die breite Basis mobilisiert werde.

Michael Lucke fand die Veranstaltung „sehr erfolgreich“. Sie sei eine gute Gelegenheit gewesen, sich zu informieren. Die Pro- und Kontra-Argumente seien in einer sachlichen Diskussion vorgetragen worden. Auch das Publikum habe sich fair verhalten. So könne direkte Demokratie eingeübt werden. Er betonte noch einmal, dass das Aktionsbündnis nicht gegen den Gemeinderat oder Gewerbegebiete sei, sondern dass es sich für eine gute Beteiligungsstruktur einsetze. Wenn nach einer Bürgerbeteiligung der Gemeinderat die letztendliche Entscheidung treffe, sei das gut.

Die Ähneshalde als Plan B genannt zu haben, sei keine Drohung gewesen, sagte Neher auf Nachfrage. Dieses Vorgehen entspreche dem Beschluss des Gemeinderats. Er finde es auch nicht schön, wenn das Neckartal zugebaut werde. „Aber wir brauchen Gewerbegebiete.“ Er habe etwas gegen „Verschleierungspraktiken“. Deshalb benenne er die Fakten.

Volkmar Raidt kündigte im Pausen-Gespräch einen weiteren Bürgerentscheid an, sollte nach Ablehnung des „Herdwegs“ die „Ähneshalde“ als Gewerbegebiet favorisiert werden.

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Erstellt:
04.10.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 6min 12sec
zuletzt aktualisiert: 04.10.2018, 01:00 Uhr

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