Neubesinnung am Philosophenweg

Zeitgeistige Geisterbahn-Rallye in der Tübinger Kunsthalle

Wie ausgewechselt: Die Tübinger Kunsthalle präsentiert Arbeiten des Künstlerduos Andree Korpys und Marcus Löffler und orientiert sich neu.

15.12.2017

Von WILHELM TRIEBOLD

Andree Korpys und sein gezeichnetes Bücherregal: Literatur der RAF-Mitglieder in der konspirativen Tübinger Wohnung.  Foto: Ulrich Metz

Andree Korpys und sein gezeichnetes Bücherregal: Literatur der RAF-Mitglieder in der konspirativen Tübinger Wohnung. Foto: Ulrich Metz

Tübingen. Als die Kunsthalle vor 46 Jahren in Tübinger Halbhöhenlage entstand, verschrieb sich ihr Gründungsdirektor Götz Adrian zuerst einmal der zeitgenössischen Avantgarde, ehe er mit der klassischen Moderne à la Cézanne und Renoir auf einen Erfolgskurs einschwenkte. Das sollte man nicht vergessen, wenn es jetzt mit Adrianis endgültigem Abschied – er war zuletzt noch als Stiftungsvorstand vor Ort – um eine Neubesinnung und Neubestimmung am Philosophenweg geht.

Eine dieser frühen Ausstellungen hieß 1974 „Aspekte einer politisch engagierten Kunst“. So hätte man wohl auch den Ansatz des zeitweiligen Adriani-Nachfolgers Holger Kube Ventura überschreiben können, der als künstlerischer Vorstand mit einem gesellschaftspolitisch verengten Ansatz versucht hat, die Kunsthalle neu auszurichten, ehe er sich prompt mit Adriani überwarf.

Drei seiner Projekte wurden noch umgesetzt, auf die programmatische Sammelschau „Kapitalströmungen“ folgte die – leider unter Wert gehandelte – Shirin-Neshat-Retrospektive und nun als vorerst letztes Lebenszeichen des Polit-Kurators Ventura in der Kunsthalle die aktuelle Ausstellung mit Arbeiten des Künstlerduos Korpys/Löffler.

Andree Korpys und Marcus Löffler haben sich auf die dechiffrierende Kunst-Recherche verlegt. Mit geradezu geheimdienstlich tätiger Akribie forschen sie die Gegenwart und ihre Machtverwerfungen aus, indem sie etwa dem Bundesnachrichtendienst, US-Präsident George W. Bushs Air Force One oder philosophisch gestimmten Wendland-Räumkommandos auf der Spur sind. So entstehen irritierende, manchmal sogar situationskomische Annäherungen, meist per Video-Installation und mehr oder minder verfremdet. Es ist wiederum ein medialer Diskurs-Parcours daraus geworden, eine zeitgeistig komplexe Geisterbahn-Rallye durch licht-kühle Räume, aber auch durch abgedunkelte Video-Kabinen und Kabinette, wie sie die runderneuerte Kunsthalle seit dem programmatischen Reset ausmachen.

In dem zentralen RAF-Komplex beschäftigen sich die beiden Recherche-Künstler dann auch mit einem Fall vor der Haustür: Vor über drei Jahrzehnten tauchten ein paar Terroristen der dritten Generation in Tübingen unter, und zwar ausgerechnet in der Friedrich-Zundel-Straße. Georg Friedrich Zundel, muss man dazu wissen, ist eine Ahnherr der Kunsthalle, weil der Arbeitermaler und bekennende Kommunist von seiner späteren Frau, der Konzern-Erbin Paula Bosch, mit der Tübinger Kunsthalle ein Denkmal besetzt bekam. Korpys/Löffler ermitteln die Umstände und wandeln sie in Kunst um. Hier schließt sich der Kreis zwischen politisch motivierter Kunst und ästhetischer Wirksamkeit.

Die Frage an die neue Kunsthallenleiterin Nicole Fritz, die neulich ihr Programm vorstellte, lautete deshalb: Wie hält sie's, nach dem Vorgänger, mit der politischen Ausrichtung? Sie wolle Kunst nicht „auf ein System eingrenzen“, meinte Fritz dazu, „mein Kunstbegriff ist breit“. Die Vermittlung von Bildkompetenz an Jüngere sei schließlich auch schon hochpolitisch. Es gehe ihr, bekräftigte sie, „um Kunst, um Kunst, um Kunst“.

Und dazu hat die neue Kunsthallen-Chefin Nicole Fritz gegenüber allen unmittelbaren Vorgängern einen entscheidenden Vorteil: Sie ist künftig nicht nur Kuratorin, sondern mit Götz Adrianis Weggang alleiniger Vorstand der Stiftung. Das habe sie sich, heißt es, vor ihrem Wechsel aus Ravensburg ausdrücklich ausbedungen.

„Sexy and Cool“ – das neue Programm

Kunsthallen-Leiterin Nicole Fritz kuratiert als Erstes im kommenden März die Ausstellung „Sexy and Cool“ – Postminimalistische Kunst“, die 20 Gegenwartskünstlerinnen und -künstler versammelt, wie sie sich mit den elementaren Formen der Minimal Art beschäftigen – darunter Altmeister Franz Eberhard Walther, zu dessen Durchbruch vor 45 Jahren damals Adrianis Tübinger Pionier-Ausstellung beitrug. (24. März bis 1. Juli 2018).

Programm Es folgt „Almost Alive Hyperrealistische Skulptur2“. Erstmals ein Überblick über die hyperrealistische Bewegung der letzten 50 Jahre mit über 30 Exponaten und Leihgaben aus aller Welt (21. Juli bis 21. Oktober 2018). Eine Hommage an die österreichische Forokünstlerin Birgit Jürgenssen („Schneegewitter“) spiegelt das Lebensgefühl der 1970er- bis 1990er-Jahre wider und steht für den emanzipatoischen Impuls in der Kunst (10. November 2018 bis 15. Februar 2019). Danach wird in der Kunsthalle eine noch vom Vorgänger Holger Kube Ventura konzipierte Ausstellung über Kunst im Kongo eingeschoben, bevor vom 20. Juli bis 10. November 2019 die Bilderschau „Comeback“ dem „kunsthistorischen Renaissancen in der Gegenwartskunst“ nachspürt. ?wit

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Erstellt:
15.12.2017, 08:56 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 00sec
zuletzt aktualisiert: 15.12.2017, 08:56 Uhr

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