Literaturarchiv

Zauberwort „digital“

In der Corona-Krise haben die Marbacher viel zu tun, sie sammeln und forschen. Und beschäftigen sich auch mit der Computer-Sprache.

21.01.2021

Von Jürgen Kanold

Der Nachbau eines mittelalterlichen „Computers“ nach dem Gelehrten Llull. Foto: DLA Marbach

Der Nachbau eines mittelalterlichen „Computers“ nach dem Gelehrten Llull. Foto: DLA Marbach

Bücher über Bücher, regalweise. Das ist jetzt keine Überraschung im Deutschen Literaturarchiv (DLA). Aber bei der Jahrespressekonferenz meldeten sich Direktorin Sandra Richter und Co. am Mittwoch per Zoom-Konferenz solo aus ihren Büros – nicht nur in Marbach, aber vor typischer Kulisse. „Zoom-Kapsel“ ist dann auch eine Reihe in dieser Corona-Zeit überschrieben, in der online dem Publikum ein besonderes Exponat vorgestellt wird: etwa Franz Kafkas Brief vom 11. September 1922 an Max Brod.

„Digital“ und „Digitalisierung“ heißen die Zauberworte. Das ist nicht neu für die Schillerhöhe. Zunächst aber sammeln sie dort nach wie vor beschriebenes und bedrucktes Papier. Doch was kommt ins Archiv? Und was sollte besser „im Müll verschwinden“. An zwei Wochenenden in diesem Jahr werden sich 14 Schriftstellerinnen und Schriftsteller darüber Gedanken machen und vor laufender Kamera eine „Kiste für Marbach“ ein- und im Gespräch wieder auspacken.

Altmeister Hans Magnus Enzensberger jedenfalls gestand einmal dem „Spiegel“: „Eines Tages kamen zwei Herren vom Marbacher Literaturarchiv. Ich gab den beiden den Kellerschlüssel. Meinetwegen könnt ihr euch diesen Komposthaufen gern anschauen. Die haben dort zwei Tage lang gestöbert. Es stellte sich heraus: So blöd war der gar nicht, der diese Notizen geschrieben hat. Ziemlich scharf beobachtet.“

Was jetzt aktuell reinkommt – und wer auch nicht „blöd“ beobachtet: Christoph Hein. Der in Berlin lebende deutsch-deutsche „Chronist ohne Botschaft“, wie er selbstironisch sagt, hat ein Riesenwerk geschrieben und ist demnächst bei Suhrkamp neu mit seinem Roman „Guldenberg“ vertreten. Aber jetzt hat der 76-Jährige seinen Vorlass nach Marbach gegeben: Manuskripte, Arbeitsmaterialien und Briefe vor allem aus der späten DDR-Zeit, als Hein mit „Drachenblut“ oder „Die Ritter der Tafelrunde“ bekannt wurde.

Eine Reihe wichtiger Neuerwerbungen aus 2020 zählte Archivleiter Ulrich von Bülow auf: darunter das Fotoarchiv W.?G. Sebalds, das Verlagsarchiv von Philipp Reclam jun. mit nicht zuletzt 55 000 Bänden der Universal-Bibliothek aus den Jahren 1867 bis 1963. Oder auch Entwürfe, Lesenotizen und Manuskripte aus dem Nachlass von Marcel Reich-Ranicki, die zeigen, wie dessen wirkungsvolle Rezensionen entstanden. Der Großkritiker selbst setzte auf ein ausgetüfteltes System aus Signaturen und Archiv-Mappen.

Christoph Hein übergibt Manuskripte und Briefe. Foto: Chris Korner

Christoph Hein übergibt Manuskripte und Briefe. Foto: Chris Korner

Dazu kamen auch einzelne herausragende Autographen, etwa ein Blatt Friedrich Hölderlins von 1787, dessen Echtheit Eduard Mörike beglaubigte. Ansonsten lief es mit Hölderlin wegen Corona im vergangenen Jahr nicht optimal: Die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag sind jedoch verlängert worden, mit einem Schwerpunkt im Mai/Juni 2021. Vielleicht geht es Franz Kafka besser – jedenfalls dräut dessen 100. Todestag am 3. Juni 2024, und im Mittelpunkt der Marbacher Aktionen steht das Ausstellungs- und Forschungsprojekt „Kafka global“, ein digitales Portal in Zusammenarbeit mit den Bodleian Libraries Oxford und der National Library of Jerusalem.

Heike Gfrereis, die Leiterin der DLA-Museen, konzipiert die Ausstellungen jetzt sowieso für unterschiedliche Räume, auch weil in den nächsten Jahren in Marbach große Bauprojekte anstehen, was Flexibilität erfordert. In realen – und in virtuellen Räumen soll sich das abspielen (vom Frühjahr an auf einer neuen Plattform: www.literatursehen.com).

Virtuelle Ausstellungen

Viel Geld dafür kommt nicht zuletzt aus „Digitalisierungsinitiativen“ des Bundes und des Landes: Die Dauerausstellung („Die Seele“) des Literaturmuseums der Moderne wird überarbeitet, digitale Techniken sollen im Projekt „SchillerHochDrei“ im Schiller-Nationalmuseum eingesetzt werden. Und die Wechselausstellung „#LiteraturBewegt“ beschäftigt sich mit den Zeichensystemen eines Literaturarchivs und erzählt aus dieser Perspektive eine Geschichte der Digitalisierung. Wie spricht der Mensch mit dem Computer, wie der Computer mit dem Menschen?

Enzensbergers „Poesieautomat“ kommt dann wieder mal zum Einsatz, aber auch der Nachbau eines mittelalterlichen Computers, den um 1300 der Mallorquiner Gelehrte Ramon Llull konstruiert hatte. Ziemlich viel Zukunft also, mit oder ohne Papier – auch im bewahrenden Archiv.

Reden, Poesie und die Geschichte

Das Lyriktelefon geht von diesem Donnerstag an wieder live auf Sendung: Das Ensemble des Schauspiels Stuttgart liest Poesie von Dichterinnen und Dichtern, deren Handschriften im Marbacher Literaturarchiv gesammelt werden. Termine können online gebucht werden unter www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan

Im Verlag Klett-Cotta erscheint am 23. Januar Jan Eike Dunkhases Geschichte des Deutschen Literaturarchivs, ein Buch über den „schwäbischen Zauberberg“ in Marbach: „Provinz der Moderne“.

Die Schillerrede 2021 hält am 7. November die Schriftstellerin Anne Weber, die im vergangenen Jahr mit „Annette, ein Heldinnenepos“ den Deutschen Buchpreis gewann.

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Erstellt:
21.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec
zuletzt aktualisiert: 21.01.2021, 06:00 Uhr

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