Rottenburg · Schafzucht

Wolf in Niedernau: „Jetzt ist er da, jetzt müssen wir mit ihm leben“

Außer den Kamerabildern hat der Wolf, der bei den Schafweiden von Sonja und Armin Saile auf der Hochfläche zwischen Bad Niedernau und Weiler herumstreunte, keine Spuren hinterlassen. Es bleibt die Frage: Wann kommt der nächste?

01.03.2020

Von Angelika Bachmann

Das Schaf Mähli ist zwei Jahre alt. Sonja Saile und ihr Mann Armin haben das Tier mit der Flasche aufgezogen. Bild: Angelika Bachmann

Das Schaf Mähli ist zwei Jahre alt. Sonja Saile und ihr Mann Armin haben das Tier mit der Flasche aufgezogen. Bild: Angelika Bachmann

Ein kalter Wind bläst über die Felder oberhalb von Bad Niedernau. Die Schafe und Ziegen ficht das nicht an. Der Winter war insgesamt so mild, dass die Tiere eigentlich die ganze Zeit im Freien bleiben konnten, sagt Sonja Saile. Sie selbst hat sich einen Schal umgewickelt. Um den Hals hat sie eine Kamera, wie fast immer, wenn sie bei den Schafen ist. Denn was man hier oben alles zu sehen bekommt, wenn man viele Stunden am Tag im Freien verbringt, ist faszinierend. Ein Milan kommt immer wieder zum Schafhof der Sailes, um zu schauen, ob es Futter für ihn gibt. Letztes Jahr hat Sonja Saile eine Wiesenweihe fotografiert. Und sogar einen Wiedehopf.

Einen anderen Bewohner der Wälder hat sie seit dieser Woche ebenfalls im Foto und auf Video, aufgenommen von einer Wildtierkamera: Die Bilder von dem Wolf, der um die Schafweide der Sailes herumstreunte, haben in allen Medien die Runde gemacht. Es war der erste Wolf, der im Kreis Tübingen gesichtet und als solcher auch amtlich bestätigt wurde.

Dass Sonja Saile und ihr Mann Armin überhaupt eine Wildtierkamera am Zaun ihrer Weide haben, hat einen Grund. Schon vor fünf oder sechs Jahren fand Sonja Saile eines Morgens ein totes Lamm beim Stall. Vielmehr: das, was noch davon übrig war. Kopf, Vorderfüße und Fell. Bis heute wissen die Sailes nicht, wer das Lamm gerissen hat. Der Wildtierexperte Micha Hertfelder von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt in Freiburg, dem sie die Bilder gezeigt hatten, hielt es damals schon für möglich, dass da ein Wolf zugeschlagen hat. „Man weiß es nicht“, sagt Armin Saile und zuckt mit den Schultern. Aber am Tag nach diesem Vorfall kauften sich die Sailes eine Wildtierkamera und installierten sie bei ihrer Schafweide.

Seither haben sie Tausende von Füchsen und Hunderte Wildschweine gefilmt. Auch mal ungebetene menschliche Gäste, die Gartenabfälle ins Gehege kippten, oder (nachts!) mit ihren Kindern kamen und ein Lamm aus dem Gehege holten, damit die Kinder damit spielen konnten.

Am Dienstag vor einer Woche nahm Sonja Saile die Karte aus der Kamera, schob sie abends in den Computer, wie immer eigentlich, und erwartete zu sehen, was sie sonst auch immer sah. Dann schaute sie doch genauer hin: „Mein erster Gedanke war: Wow, was für ein fetter Fuchs!“ Doch wer schon so viele Füchse auf der Wildtierkamera sah, wie Sonja Saile, merkt sofort: Das konnte kein Fuchs sein. Nicht nur die Form und die Größe, auch die Art der Bewegung, dieser typisch wolfsmäßige „schlabbrige Trab“! Die Sailes wandten sich an den Wildtierbeauftragten, stellten das Video bei Facebook online: „Was schleicht da nachts um meine Schafe?“

Inzwischen ist es amtlich: Aufgrund der Filmaufnahmen wurde das Tier als Wolf identifiziert. Weitere Spuren wurden nicht gefunden, obwohl nicht nur Sonja Saile, sondern auch der Wildtierbeauftragte Johannes Scheit Meter um Meter um das Schafgehege abgesucht haben, ob sich nicht doch noch Kothaufen oder sonstige Spuren finden.

Die Sailes waren gut vorbereitet und haben die Weiden mit Elektro-Zäunen gesichert. Rottenburg liegt im amtlich ausgewiesenen Wolfsgebiet. 14 Elektro-Zäune à 50 Meter hatte Armin Saile kürzlich bestellt. Etwa zwei Drittel der Kosten dafür erhält er erstattet, weil der Stall im Wolfsgebiet liegt. 80 Mutterschafe und 20 Ziegen haben die Sailes derzeit. Die Weideflächen auf den Obstwiesen werden manchmal täglich umgesteckt. Die Mutterschafe mit den Lämmern sind zurzeit im Stall – auch den haben die Sailes mit Elektrozaun gesichert.

Ein solcher Zaun, der nicht mal einen Meter hoch ist, hält aber einen erfahrenen Wolf nicht ab, wie etwa der Wolfsriss in Calw gezeigt hat, wo ein Wolf über den Elektrozaun gesprungen ist. „Deshalb glaube ich auch nicht, dass das der Kamerad aus Calw war. Der weiß, wie’s geht“, sagt Armin Saile. Reines Glück sei es gewesen, dass nichts passiert sei, sind sich die Sailes sicher.

Mit der Schafzucht angefangen haben die Sailes wegen ihrer Kinder – und mit vier Tieren. Jetzt sind es an die hundert. Die Tiere sind auf den Wiesen in Richtung Weiler und Kreuzerfeld fleißig als Landschaftspfleger im Einsatz. Die Kinder der Sailes sind mittlerweile längst erwachsen. Und die Lämmer sind auch Nutztiere, werden an Privatleute zum Schlachten verkauft.

Die Vorstellung, dass sie eines Morgens auf ihrer Wiese ein Schlachtfeld vorfinden, ist für die Sailes trotzdem beängstigend. Die Vorstellung, gerissene Tiere von der Weide räumen zu müssen, ist nicht angenehm. Außerdem, sagen die Sailes, ist eine Herde, die so etwas erlebt hat, nicht mehr wie sie vorher war. Die Angst sitze den Tieren in den Knochen.

An ein paar Tieren hängen die Sailes besonders, manche haben Namen, einige haben sie mit der Flasche im Wohnzimmer aufgezogen. In den ersten zwei Nächten, nachdem sie den Wolf gefilmt hatte, hat Sonja Saile deshalb schlecht geschlafen, ist nachts immer wieder ans Fenster, um zu hören, ob sie ein Schaf schreien hört. Aber auf die Dauer geht das ja nicht, sagt sie. Man darf sich davon auch nicht aufzehren lassen. Der Wolf ist ein geschütztes Tier. Sonja Saile sagt: „Jetzt ist er da, jetzt müssen wir mit ihm leben.“ Das Tier, das um ihre Schafweide schlich, war vermutlich ein Jungtier und ist wohl weitergezogen. Zumindest hat die Wildtierkamera nichts weiter aufgezeichnet. Die Frage bleibt: Wann kommt der nächste?

In einem einzelnen Wolf sieht Armin Saile noch keine Gefahr, auch nicht für den Menschen. „Bei einem Rudel – da sieht die Welt ganz anders aus.“ Es ist wohl eine Frage der Zeit, sagt Armin Saile. „Irgendwann wird man die Tiere schießen müssen.“