Jahrestag Matthias Erzberger

Interview mit Wolfgang Schäuble: „Wo Hass und Hetze hinführen“

Matthias Erzberger beendete den Ersten Weltkrieg, wurde zum Ziel für rechten Hass – und ermordet. Wolfgang Schäuble über einen geschmähten Giganten und das Gift politischer Hetze.

24.08.2021

Von Martin Tröster

Bundestagspräsident und Erzberger-Bewunderer Wolfgang Schäuble. Foto: Nietfeld/dpa

Bundestagspräsident und Erzberger-Bewunderer Wolfgang Schäuble. Foto: Nietfeld/dpa

Berlin/Buttenhausen. Am 26. August vor 100 Jahren wurde Matthias Erzberger erschossen. Er war einer der bedeutendsten Politiker des letzten Jahrhunderts. Seine Steuerreform wirkt bis heute, seine Unterschrift unter dem Waffenstillstandsvertrag beendete den Ersten Weltkrieg. Konservative und rechte Kreise machten ihn später für den verlorenen Krieg verantwortlich, auch der General und spätere Reichspräsident Paul von Hindenburg hetzte mit und stahl sich damit aus der Verantwortung. Die Hetze führte 1921 zu seiner Ermordung. Danach wurde er jahrzehntelang vergessen. Einer, der Erzberger schon lange bewundert und sich seit Jahren für sein Andenken einsetzt, ist Wolfgang Schäuble (CDU), Bundestagspräsident und Ex-Finanzminister.

Herr Schäuble, wissen Sie, wie viele Straßen in Deutschland nach Erzberger benannt sind?

Nein, keine Ahnung.

Ungefähr 100. Hindenburg hat immer noch vier Mal so viel.

Bei Hindenburg ist es schon bemerkenswert, wie er sich nach dem Ersten Weltkrieg zum großen Helden stilisieren konnte. Umso unverständlicher ist für mich, dass Erzberger in der deutschen Erinnerungskultur so sträflich ignoriert worden ist. In Berlin gibt es bis heute keine Erzbergerstraße. Inzwischen hat der Deutsche Bundestag ein Gebäude nach ihm benannt und davor eine sehr schöne Skulptur aufgestellt. Auch der größte und repräsentativste Saal im Bundesfinanzministerium wurde 2011 nach ihm benannt.

Naja, es hat auch damit zu tun, dass die CDU in der Nachkriegszeit auf Distanz zu ihm ging.

Ich habe nicht die Erinnerung, dass die CDU den Widerstand gegen Erzberger-Ehrungen angeführt hätte. Es greift zu kurz, das Problem auf die parteipolitische Schiene zu ziehen. Man kann feststellen: Erzberger war nicht links. Und alles, was in der Weimarer Republik nicht links war, wollten die Sozialdemokraten auch nach 1945 nicht gelten lassen. Daraus würde ich jetzt nicht ein Problem der CDU machen.

Das mache ich auch nicht. Jedenfalls nicht nur. Sie haben es ja angesprochen: Auch die Sozialdemokraten wollten nicht viel von ihm wissen. So gut wie niemand wollte das nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ich habe das persönlich nicht miterlebt und mich später nur gewundert, warum die Erinnerung an Erzberger so schwierig ist. Ich wusste, dass er als Finanzminister Großes geleistet hat – seine Reformen wirken bis heute nach. Und er hat sein Leben gelassen für die Demokratie. Ich glaube, es lag an der Gesellschaft insgesamt, dass er nicht gewürdigt wurde. Daran kann man erkennen, wie lange Verleumdungen doch nachwirken.

„Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen“: Matthias Erzberger, Hassfigur der Rechten in der Weimarer Republik, ahnte seine Ermordung voraus. Foto: akg-images/epd

„Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen“: Matthias Erzberger, Hassfigur der Rechten in der Weimarer Republik, ahnte seine Ermordung voraus. Foto: akg-images/epd

Weil er den Waffenstillstandsvertrag unterschrieben und damit faktisch den Ersten Weltkrieg beendet hat, weil er den Friedensvertrag durchgeboxt hat, wurde er für rechte Kreise zur Zielscheibe. Seiner Ermordung gingen jahrelange Hetzkampagnen voraus.

Ja, der Erzberger ist schlimm verleumdet worden und das hat noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gewirkt. Aber das ist seit einiger Zeit zum Glück anders.

Fiel Erzberger vor 100 Jahren Hass und Hetze zum Opfer?

Wenn Sie heute sehen, wie mit Politikern in den sozialen Medien umgegangen wird: Müssen Sie dann daran denken, was Sie über Hass und Hetze vor 100 Jahren wissen, denen Erzberger zum Opfer fiel?

Wohin Hass und Hetze führen, sieht man auch heute an vielen Stellen. Ich muss nur an die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erinnern.

Lübcke hatte sich 2015 für ein Flüchtlingsheim in Kassel eingesetzt und dabei aggressiven Gegnern beschieden, sie könnten das Land ja verlassen, wenn sie bestimmte Werte nicht teilten. Monatelang wurde er daraufhin beschimpft, in sozialen Medien wurde gegen ihn gehetzt. 2019 wurde er ermordet. Ein Rechtsextremist hat ein Geständnis abgelegt und wurde verurteilt.

Ja, das war eine furchtbare Geschichte. Unsere heutige Situation können Sie allerdings überhaupt nicht mit der Lage von 1919/1920 vergleichen. Wir leben – anders als die Menschen damals – in großem Wohlstand. Unsere Probleme sind andere. Aber wohin verbale Aggression führen kann und dass wir den Anfängen wehren müssen, das können wir aus der Geschichte lernen.

Vielleicht gehört es zu Erzbergers Tragik im Tode, dass die Einbindung von Rechten in die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg zur größten Leistung der Geschichte der CDU gehört. Die CDU ist ja Nachfolgerin von Erzbergers Zentrumspartei: Die CDU hat nach 1945 auch den ehemaligen Nazis ein Angebot gemacht und sie für den Rechtsstaat gewonnen. Die Klientel hätte es abgeschreckt, wenn man nach 1945 zu viele Erzberger-Statuen eingeweiht hätte.

Konrad Adenauer hat die Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen und wusste, dass er die Entstehung einer revanchistischen Bewegung verhindern muss. Diese Integration war eine seiner großen Leistungen. Aber das hat nichts zu tun mit der Erinnerung an Erzberger. Die CDU ist ja nach ihrem Gründungsaufruf gerade nicht die Nachfolgerin des Zentrums [die katholische Zentrumspartei war eine wichtige, aber nicht die einzige Vorläuferin der CDU, die sich von Anfang an als überkonfessionell verstanden hat, Anm. d. Red.]. Daran mag es auch liegen, dass man Zentrumspolitiker nicht in den Mittelpunkt der Erinnerung gestellt hat. Jedenfalls war es eine unglaublich schwierige und wichtige Aufgabe, alle Teile in unserer Gesellschaft nach solch einem schweren Bruch in der Geschichte zu versöhnen und zu integrieren, sofern sie bereit waren, die Grundprinzipien eines demokratischen Rechtsstaats zu akzeptieren. Sonst kommen Sie doch von einer Katastrophe in die Nächste. Adenauer hat mit seiner Politik den Grundstein dafür gelegt, dass wir Jahrzehnte lang keine ernstzunehmende rechte Partei hatten. Es ist traurig, dass wir daran jetzt wieder arbeiten müssen, aber das ist eine andere Zeit – und eine andere Geschichte.

Wie integriert man die politische Rechte?

Womit wir bei der Gegenwart und der AfD sind: Sollte die CDU als Volkspartei mit konservativer DNA heute nicht die Aufgabe haben, viel mehr Wähler aus dem rechten Spektrum einzubinden, statt vor allem die Mitte abzugrasen?

Ich halte von dieser Rechts-Links-Gesäßgeografie nicht viel, um es einmal mit Heiner Geißler zu sagen. Wir müssen wie jede Volkspartei versuchen, die Menschen für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zu gewinnen. Alle großen Volksparteien haben die Aufgabe, möglichst viele Menschen, auch wenn sie eine andere Meinung haben, zu integrieren und nicht diese auszugrenzen. Die CDU gründet sich nicht nur auf konservative, sondern auch auf christlich-soziale und liberale Wurzeln. Alle drei sind gleichermaßen wichtig.

Wie integriert man demokratisch nach rechts?

Indem ich die Themen, die den Menschen wichtig sind, anspreche und versuche, ihnen aus meiner Überzeugung heraus die richtigen Antworten zu geben. Das gilt auch für Menschen, die offen sagen, wir hätten zu viele Ausländer und Flüchtlinge. Denen dürfen wir nicht gleich antworten: „Du bist ein Nazi.“ Wir müssen versuchen, sie mit Argumenten zu gewinnen. Damit sie nicht populistischen Parolen nachlaufen. Das ist eine Aufgabe für alle demokratischen Parteien. Als Mitglied der CDU freue mich natürlich über jede Stimme für meine Partei.

Wie grenzen Sie sich dabei von ganz rechts ab?

Ich habe immer erklärt, warum wir in einer Welt, die so stark vernetzt ist, mehr Zuwanderung haben werden und warum wir sogar darauf angewiesen sind. Aber auch, dass wir Migranten integrieren müssen – und dass wir uns nicht vor diesen Menschen fürchten müssen, wenn uns die Integration gelingt. Die moderne Welt ist anders als im letzten Jahrhundert. Das muss man immer wieder erklären. Man muss bereit sein, auf die Einwände der Leute zu hören. Aber man darf ihnen nicht nach dem Mund reden. Das ist manchmal mühsam, aber ich bin nicht hoffnungslos.

In Bad Griesbach erinnert ein Gedenkstein an die Ermordung Matthias Erzbergers vor 100 Jahren. Foto: Maria Bloching

In Bad Griesbach erinnert ein Gedenkstein an die Ermordung Matthias Erzbergers vor 100 Jahren. Foto: Maria Bloching

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Erstellt:
24.08.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 47sec
zuletzt aktualisiert: 24.08.2021, 06:00 Uhr

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