Interview

Wohnungsministerin Razavi: „Wir sollten Ermöglicher sein“

Die Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen, Nicole Razavi (CDU), über mögliche Stellschrauben zur Ankurbelung des Wohnungsbaus – und die Vorzüge von Seniorenwohnanlagen im Ortskern.

08.09.2021

Von ROLAND MUSCHEL

Nicole Razavi (CDU), baden-württembergische Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen. Foto: Bernd Weissbrod/dpa

Nicole Razavi (CDU), baden-württembergische Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen. Foto: Bernd Weissbrod/dpa

Stuttgart. Zurück vom Urlaub an der Nordsee, bricht Nicole Razavi, 56, gleich zu einer einwöchigen „Denkmalreise“ quer durchs Land auf. Die neue Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen will wissen, wie Denkmalschutz und Wohnen besser zusammengehen können. Das Interview findet vor dem Start der politischen Bildungsreise in ihrem Übergangs-Büro statt, in dem bis 2004 der damalige Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP) residierte.

Frau Razavi, nach Ihrer Vereidigung als Ministerin im Mai hatte Ihr neues Ressort noch kein Dach über dem Kopf. Wie ist die Lage heute?

Nicole Razavi: Wir sind weiter auf Wohnungssuche. Wir sind derzeit quasi zur Untermiete in einem Gebäude des Wirtschaftsministeriums untergebracht. Aber die Räumlichkeiten reichen nicht für das komplette Ressort, das sich auch personell noch im Aufbau befindet. Ich hoffe, dass meine Mannschaft bis Ende des Jahres komplett ist und wir dann unter einem Dach arbeiten können.

Sie bauen ein neues Ministerium auf, während das Staatsministerium einen Strategiedialog zum Wohnen einführt. Wer hat bei dem Thema eigentlich den Hut auf?

Die Koalition hat sich bewusst entschieden, bezahlbares Wohnen in einem eigenen Ressort zu bündeln, das den Wohnungsbau und die Landesentwicklungsplanung vorantreibt. Wenn der Ministerpräsident dem Thema mehr Prominenz verschafft, umso besser.

In den vergangenen fünf Jahren hat das Wirtschaftsressort den Hut aufgehabt und die Wohnraumallianz ins Leben gerufen. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist indes weiter riesig. Was wird nun anders?

Die Wohnraumallianz hat gute Vorarbeiten geleistet, auf denen wir jetzt aufbauen können. Wichtige Vorschläge von ihr wie der Grundstücksfonds sind bereits auf den Weg gebracht und fangen jetzt an zu greifen. Der Strategiedialog wird so etwas wie die Fortsetzung dieser Allianz sein, davon verspreche ich mir weitere Impulse.

Der Bedarf an zusätzlichem Wohnraum ist gewaltig. Was heißt das für Ihre Anmeldungen zum Haushalt 2022, über den derzeit verhandelt wird?

Mit dem jüngsten Nachtragshaushalt für 2021 war ich sehr zufrieden, weil wir genug Stellen und Startkapital bekommen haben, um den Motor anzuwerfen. Für den Haushalt 2022 gilt, dass wir auch als neues Ministerium unseren Anteil an der Gesamteinsparvorgabe von 250 Millionen Euro leisten müssen. Auf der anderen Seite sind auch Zusatzausgaben für neue Schwerpunktthemen vorgesehen. Mein Ministerium lebt wie kaum ein anderes von Förderprogrammen, Anreizen, Prämienmodellen. Die werden wir auch in Zukunft benötigen, um bei Kommunen oder privaten Investoren Anstöße für den Wohnungsbau zu schaffen. Wir müssen den Motor nicht nur am Laufen halten. Wir müssen noch mehr aufs Gaspedal drücken. Dafür benötigen wir zusätzlichen Kraftstoff.

Um Besitzer unbebauter Grundstücke zum Bauen zu bewegen, will die Koalition eine Grundsteuer C einführen. Wie weh wird die der Oma tun, die ein Grundstück für das Enkelkind vorhalten will?

Mit der Grundsteuer C geben wir den Kommunen eine weitere Möglichkeit an die Hand, einen Anreiz fürs Bauen zu setzen. Wir zwingen damit aber niemanden, das Enkel-Grundstück aufzugeben. Die Achtung des Eigentums ist mir wichtig.

Was halten Sie davon, mehr auf Parkplätzen oder Supermärkten zu bauen?

Es gibt viele Parkflächen, die man durch ein Parkgeschoss ersetzen könnte, um dann Wohnungen oder Büroflächen draufzusetzen. Wir haben auch Supermärkte innerorts, auf die man noch ein Stockwerk oder zwei draufzusetzen könnte. Da haben wir noch viel Luft nach oben. Künftig sollte man diese Möglichkeiten schon bei den Planungen berücksichtigen.

Hier der Wunsch nach neuen Bauflächen, da die Forderung, das Klima und die Flächen zu schonen. Lässt sich dieser Konflikt auflösen?

Der lässt sich nicht vollständig auflösen. Wir werden weiterhin die Erschließung neuer Baugebiete brauchen. Aber wir sollten uns auf die Innenentwicklung konzentrieren, auf die Aktivierung von Flächen im Ort. Dazu gehört viel Bewusstseinsbildung bis ins kleinste Dorf.

Der Fokus liegt allein auf der Quantität neuer Wohneinheiten?

Nein. Es muss auch unser gemeinsames Ziel sein, wieder mehr Leben in die Kommune zurückzubringen, indem sich Menschen bewusst dafür entscheiden, mitten in den Ort zu ziehen. Ich wohne selber inmitten meiner Kommune. Ich weiß, was es heißt, dass man fußläufig zum Bäcker, zur Apotheke, zum Bahnhof gehen kann. Das ist großartig – und Ergebnis einer vorausschauenden Innenentwicklung.

Wie kann die gelingen?

Indem man die richtigen Fragen stellt: Was müssen wir tun, damit die Menschen im Ort bleiben? Muss der Supermarkt wirklich am Ortsrand stehen? Oder die Seniorenwohnanlage? Ich meine: nein. Bei mir zuhause in Salach ist eine Seniorenwohnanlage mitten im Ort gebaut worden, daneben ein Café, Einkaufsmöglichkeiten, gegenüber das Rathaus, 100 Meter weiter die Kirche. Das ist das richtige Konzept. Da können Kommunen viel machen – und wir als Land helfen.

Gemeindetag und CDU-Fraktion wollen die vielerorts geübte Praxis, bei der Bauplatz-Vergabe Einheimische zu bevorzugen, rechtssicher machen. Geht das?

Das wird gerade geprüft. Den Ansatz halte ich jedenfalls für richtig. Es ist doch in unserem Interesse, dass wir jungen Familien aus dem Ort, die am Leben der Kommune teilnehmen und sich ehrenamtlich einbringen, ein Angebot machen können. Als ehrenamtliche Präsidentin des Turngau Staufen weiß ich, was es heißt, wenn Aktive wegziehen, weil sie vor Ort keine Wohnung für die Familie finden. Da steht dann oft sogar der Fortbestand eines ganzen Vereins in Frage. Wenn Kommunen zu bloßen Schlafstätten verkommen, geht viel Gemeinschaft verloren.

Was ist mit Wohnmöglichkeiten in denkmalgeschützten Gebäuden?

Eigentümer eines Denkmals zu sein, darf nicht nur Last sein. Wir müssen als Land Brücken bauen, um den Erhalt und das Wohnen im Denkmal möglich zu machen. Es gibt, vom Schwarzwaldhof bis zur denkmalgeschützten Industrieanlage, viele Gebäude, die man zur Wohnnutzung umbauen könnte. Das Potenzial ist riesengroß. Da sollten wir Ermöglicher sein, nicht Verhinderer. Dem Denkmalschutz ist doch am besten gedient, wenn die Besitzer das Gebäude selber nutzen und bewohnen können. Ich will daher prüfen, welche Spielräume unsere Gesetze hergeben, um diese Vereinbarkeit besser hinzubekommen. Es gab früher mal ein Programm, das hieß „Scheune sucht Freund“. Ich würde es gerne ausweiten auf „Denkmal sucht Freund“. Wir müssen solche Freundschaften ermöglichen.

Was ist Ihr Ziel, wie viele zusätzliche Wohneinheiten sollen bis zum Ende der Legislaturperiode 2026 entstehen?

Entscheidend ist, dass wir jetzt so schnell wie möglich die Bedingungen und das Klima für den Wohnbau verbessern. Je größer das Angebot, umso mehr Entlastung, umso weniger Mondpreise. Das muss das Ziel sein.

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Erstellt:
08.09.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 13sec
zuletzt aktualisiert: 08.09.2021, 06:00 Uhr

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