Porträt

„Wir brauchen eine Perspektive“

Andreas Stoch ist der Spitzenkandidat der SPD. Dem 51-Jährigen ist es nach seiner Wahl 2018 zum Landesparteichef gelungen, Themen zu setzen – etwa mit dem Werben für gebührenfreie Kitas.

02.03.2021

Von JENS SCHMITZ

SPD-Politiker Andreas Stoch: Bis 2013 war er in Heidenheim als selbstständiger Rechtsanwalt tätig Foto: Markus Sontheimer

SPD-Politiker Andreas Stoch: Bis 2013 war er in Heidenheim als selbstständiger Rechtsanwalt tätig Foto: Markus Sontheimer

Stuttgart. Hübsche Galoschen!“, sagt Andreas Stoch und streichelt ein paar handgefertigte Wildleder-Stiefel in der Herren-Abteilung. „Man hat instinktiv das Gefühl, man müsste jetzt Sachen angucken, weil man's schon lang nicht mehr gemacht hat.“

Die Waren im halbdunklen Modehaus Kögel, eingekastelt ins Fachwerk der Esslinger Innenstadt, haben seit Monaten keine Kunden mehr gesehen. Inhaber Alexander Kögel, Vorsitzender der City Initiative Esslingen, spricht von einer Katastrophe für die Geschäftswelt. „Wir brauchen eine Perspektive, auf die wir zuarbeiten können“, bestätigt sein Besucher. „Deswegen gehe ich ja vor Ort, dass wir auch die Ideen sammeln.“

Kögel möchte wissen, welche Chancen Klagen auf volle Entschädigung hätten. Stoch referiert die Rechtslage; er ist skeptisch. „Ich habe versucht, keine Vorlesung draus zu machen“, sagt der 51-Jährige dann. „Aber da könnt ihr euch vorstellen, wie schwer es mir manchmal fällt, dem Kretschmann zuzuhören, wenn er sich zu rechtlichen Themen äußert. Da platz' ich schier da auf meinem Platz. Da fall ich vom Stuhl!“

Andreas Stoch ist von Haus aus Jurist, bis 2013 war er in Heidenheim als selbstständiger Rechtsanwalt tätig. Heute arbeitet er als Chef der SPD-Landtagsfraktion, als Vorsitzender der Südwest-Genossen – und als Spitzenkandidat für die kommende Landtagswahl. „Das Schlimmste wäre ja, wenn die Leute sagen, ich wusste gar nicht, dass Wahl war“, erklärt er zu den Einschränkungen im Kampf gegen die Pandemie. „Das wäre das Verheerendste“, bekräftigt er später bei einem Gespräch mit Lehrern, „wenn wir die Leute nicht zum Wählen bringen!“ Beim Thema Schule gebe es „eine Riesengefahr, dass uns der Laden auseinanderfliegt“.

Im Bildungsbereich ist Stoch in seinem Element; von 2013 bis 2016 war er Baden-Württembergs Kultusminister. Nachfolgerin Susanne Eisenmann (CDU) kritisiert er dieser Tage noch schärfer als Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Er habe zur Krise mit zuständigen Mitarbeitern im Kultusministerium gesprochen, berichtet Stoch. „Die sagen mir wortwörtlich: ,Wir erfahren die Entscheidungen der Amtsspitze aus der Zeitung.?“ Das müsse man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Stoch spricht schnell und präzise; im schmal geschnittenen Anzug unter der randlosen Brille kann er distanziert-technokratisch wirken. Rasche Auffassungsgabe, scharfe Zunge und eine etwas juvenile Neigung zu Spötteleien sind nicht jedem im Landtag geheuer. Doch der verheiratete Familienvater, vier Kinder, Protestant, ist nicht nur in seiner Region verwurzelt, sondern auch in verschiedenen Milieus. Der Vater war Automateneinrichter, die Mutter Einzelhandelskauffrau; der Sohn findet nicht, dass er mit seinen Vorlieben für Folk-Punk und Paella-Zubereitung in irgendwelche Schubladen passt.

Parteiintern kam ihm dieses Image zupass, als der Landesverband 2018 im Streit zwischen Linken und sogenannten Netzwerkern zu versinken drohte. Bei der Landtagswahl 2016 war die SPD mit 12,7 Prozent aus der Regierung geflogen. Stoch hatte den Vorsitz der stark geschrumpften Fraktion übernommen und sprang 2018 erneut in die Bresche: Als sich die Lager der erst seit zwei Jahren amtierenden Landeschefin Leni Breymaier und ihres Bundestagskollegen Lars Castellucci auch nach einem Mitgliederentscheid unversöhnlich gegenüberstanden, bot Stoch sich als Retter an. Entscheidungsfreude gilt nicht als seine größte Stärke; er steht im Ruf, konfliktscheu und vorsichtig zu sein. Doch bei einem Sieg Castelluccis hätte wohl auch Stochs Zukunft auf dem Spiel gestanden. Er warf seinen Hut in den Ring und gewann; neuer Generalsekretär wurde Fraktionskollege Sascha Binder.

Das Duo hat bislang keine schlechte Bilanz. Der innerparteiliche Streit scheint zumindest für den Moment befriedet; mit dem Werben für gebührenfreie Kitas oder eine Landeswohnbaugesellschaft hat die Südwest-SPD wieder öffentlich wirksame Themen gefunden.

Die Corona-Krise hat alle Parteien in virtuelle Formate gedrängt, doch die Genossen hatten schon vorher begonnen, ihr Image zu modernisieren. Für seine Reihe „Stoch packt's an“ war der Spitzenkandidat monatelang als Schnupperpraktikant in den verschiedensten Berufen unterwegs. Fitness konnte er bei manchen dieser Jobs auch gleich beweisen; Stoch spielt Fußball, Handball und Tennis. Für Basketball hat er einen Trainerschein, für den Wahlkampf eine eigene Spotify-Playlist.

Der Tourbus ist schwarz, nicht rot; Stochs Kür beim bundesweit ersten digitalen Parteitag mit Urnenwahl erfolgte zu Rockhymnen statt zu Genossenliedgut: Die alte Tante SPD ist erkennbar um zeitgemäße Formen bemüht. Gleichzeitig hat Stochs Fraktion die Legislatur über unverdrossen Konzepte entwickelt, zur Zukunft der Arbeit genauso wie zu Schule unter Krisenbedingungen.

Die aktuellsten Umfragen sehen die SPD trotzdem nur bei zehn oder elf Prozent. Interne Kritiker fürchten, dass die Partei sich nie ganz von der Regierungsverantwortung verabschiedet habe – dass sie zu wenig plakativ auftrete. Unter den Oppositionsfraktionen haben die Sozialdemokraten in der Pandemie den Regierungskurs am ehesten mitgetragen.

Stoch glaubt, dass der amtierende Ministerpräsident auch der neue sein wird. Er wirft Grünen wie CDU aber vor, bei ihrer Politik die soziale Komponente zu vernachlässigen. „Wenn Menschen eine grün-rote Landesregierung richtig finden“, hat er im Interview erklärt, „dann müssen sie wissen, dass wir auch eine SPD brauchen, die Gewicht auf die Waage bringt.“