Matthias Reichert zum Osiander-Abschied aus der Wilhelmstraße

Wie ich die verlorene Zeit wiedergefunden habe

Am Donnerstag hatte die bisherige Osiander-Buchhandlung in der Tübinger Wilhelmstraße das letzte Mal regulär geöffnet. Sie zieht in die Metzgergasse (wir berichteten).

12.10.2017

Von Matthias Reichert

Die Kunden sind zuletzt rarer geworden am langjährigen Tübinger Stammsitz, Fachbücher werden heute immer häufiger übers Internet verkauft. Auch ich hatte in der Wilhelmstraße schon länger kein Buch mehr erstanden. Doch zum Abschied habe ich dort vor kurzem noch einen gewichtigen Kauf getätigt: Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“, die Frankfurter Ausgabe im Schuber zum halben Preis früherer Tage.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bin ich früher oft in der Wilhelmstraße zwischen Bücherstapeln gestanden, schon im Studium, habe geblättert und nebenbei den Tag sortiert. In philosophischen Wälzern fand ich weise Gedanken für die Zukunft, in neuen Romanen die alten Geschichten und umgekehrt. Nur die vielen schlauen Ratgeber, die habe ich stets geflissentlich ignoriert.

Die verlorene und die wiedergefundene Zeit sind für mich seit jeher untrennbar mit Büchern verbunden gewesen. Immer, wenn ich nicht wusste, woher und wohin und vor allem wann, habe ich gelesen. Und schon war der Tag gerettet. Dem glücklichen Bücherwurm schlägt keine Stunde, künftig eben in der Metzgergasse. Als ich aber die verlorene Zeit endlich auch gedruckt und im Schuber in Besitz genommen hatte („nein, ist das schwer“, sagte die Buchhändlerin beim Einpacken), kam es mir draußen auf der Straße so vor, als ob der Minutenzeiger schneller laufen würde als vorher. Für einen Moment sah ich den Rest des Tages im Zeitraffer an meinem geistigen Auge vorbeiziehen. Die Wolken schienen zu rasen. Zogen dort am Himmel schon die Schatten der Dämmerung empor? Es war doch erst 17 Uhr. Nein, eine Fata Morgana! So wie der Scheinriese bei Jim Knopf – Michael Ende, wesentlicher Bestandteil meiner literarischen Sozialisation als Kind.

Jetzt also Proust, wieder eine Tübinger Lesekarriere auf die Spitze getrieben. Als nebenan in der Wilhelmstraße noch das Café „Schöne Aussichten“ saß, gab es dort eine jahrelange Marathonlesung mit Prousts Klassiker. Daran orientiere ich mich. Ich werde Monate, wenn nicht Jahre für die drei dicken Bände brauchen. Und jedes Mal beim Umblättern werde ich an die Mußestunden vor den Osianderschen Bücherregalen denken: Staunend schmökernd, stöbernd träumend, gerne auch mit Lesezeichen als Dreingabe. Von wegen verlorene Zeit – glückliche Tage! Und wenn ich am Ende doch wieder nur eine Postkarte gekauft habe.