Cold Case - Mord vor 25 Jahren

Mordfall Brigitta Jacobi: „Wie ein Damoklesschwert“

Nach dem Urteil im Mordfall Brigitta Jacobi hofft deren Schwester, dass die Polizei aus der Geschichte lernt. Und dass jetzt, nach 25 Jahren Ungewissheit, endlich Ruhe einkehrt.

31.07.2021

Von Dominique Leibrand

Nicola Moser ist froh, dass sie den Prozess um die Ermordung ihrer Schwester mitgemacht hat. Sie habe einiges erfahren, was sie nicht gewusst habe. Etwa, dass Brigitta am Schluss noch gekämpft habe. Foto: Leif Pichowski

Nicola Moser ist froh, dass sie den Prozess um die Ermordung ihrer Schwester mitgemacht hat. Sie habe einiges erfahren, was sie nicht gewusst habe. Etwa, dass Brigitta am Schluss noch gekämpft habe. Foto: Leif Pichowski

Stuttgart/Sindelfingen. Es liegt da auf dem Küchentisch. Ein angebissenes Brot. In der Hektik zurückgelassen. Mit wehenden Fahnen zur Tür hinaus. Dass es für immer ist, wer hätte das ahnen sollen?

Nicola Moser hat vieles vergessen, aber nicht das angebissene Brot. Nicht die Kaffeetasse daneben. Es ist jetzt 26 Jahre her, dass sie, damals 38 Jahre alt, Mutter von zwei kleinen Mädchen, in der Wohnung ihrer Schwester Brigitta im Stuttgarter Westen steht. Die Nachricht, dass diese ermordet wurde, erstochen auf dem Heimweg von der Arbeit, ist noch frisch. „Ich wollte die Wohnung nicht sofort ausräumen“, erinnert sich Moser. Die Mutter habe darauf gedrängt. „Im Nachhinein war's richtig.“

Juli 2021. Moser sitzt in der Academie der schönsten Künste, einem Café im Stuttgarter Justizviertel. Schachbrettmuster-Boden, die Wände voller Bilder. Das letzte Mal war sie am 23. September 2020 hier, dem Tag, an dem der Prozess um die Ermordung ihrer Schwester am nahen Landgericht begonnen hat. „Der Britt hätte es hier gefallen. Das Künstlerische, das war ihr Ding.“ Es soll Mosers vorerst letzter Besuch in Stuttgart sein. Da passe es, dass sie nochmal in dieses Café komme, sagt sie. Ein Kreis schließt sich. Das hofft sie zumindest.

Dass tatsächlich ein Vierteljahrhundert vergangen ist, seit ihre Schwester erstochen wurde, sei ihr erst in der Gerichtsverhandlung so richtig bewusst geworden, sagt Moser. Zehn Monate Mammutprozess. Gealterte Polizisten im Zeugenstand, die damals, als die Schwester starb, noch in vollem Saft standen. Jetzt sind die Haare grau und die Erinnerung an die Geschehnisse rund um jenen Tag im Juli 1995 oftmals verblasst. „Wie lange 25 Jahre sind“, sagt Moser.

Vater zerbricht an der Tat

25 Jahre Ungewissheit. Jedes Weihnachtsfest, jedes Silvester, jeder Geburtstag eine Mahnung, dass der Tod der Schwester noch nicht gesühnt ist, dass ihr Mörder noch frei herumläuft. „Das hing wie ein Damoklesschwert über der Familie.“ Jedes Mal wieder die Frage: Findet man den Täter noch? „Irgendwann glaubt man nicht mehr richtig dran“, sagt Moser. Der Vater, der vor einigen Jahren starb, sei daran zerbrochen.

Es ist 23.28 Uhr, als Brigitta Jacobi am 14. Juli 1995 bei ihrer Arbeitsstelle ausstempelt. Seit einer Woche arbeitet sie als Aushilfe bei der Firma Neuhäuser in Sindelfingen. Die letzte S-Bahn nach Stuttgart fährt um kurz vor Mitternacht. Die 35-Jährige ist auf halbem Weg, als sie von einem Mann attackiert und mit 23 Stichen getötet wird. Sechs Zeugen haben Kontakt zum Täter – trotzdem gelingt es ihm, in der Nacht zu verschwinden. Für mehr als zwei Jahrzehnte.

Alte Fotos von Brigitta zeigen eine hübsche junge Frau mit braunen Haaren. Gemeinsam mit den Geschwistern Nicola und Andreas wächst sie in Berlin und später in Ottobrunn bei München auf. Der Vater ist Physiker, die Mutter Hausfrau. Die Kindheit ist idyllisch. Man ist naturverbunden, geht wandern. Brigitta reitet, fährt Ski, zeichnet und bastelt gern. Sehnsuchtsort für die Familie ist Tirol, wo man eine Wohnung unterhält – Nicola heiratet später sogar dort und bleibt.

Brigitta zieht es nach Abitur und Keramikerlehre nach Stuttgart an die Kunsthochschule. Von ihrer Kunst kann sie sich nach dem Abschluss nicht finanzieren, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Und das ist okay so. Ihre Schwester habe jeden Tag genommen, wie er kam. Selbstbestimmt habe sie leben wollen. „Die Britt war emanzipiert.“

Dass Trauer einsam macht, muss auch Moser lernen. „Erst wollte ich nicht drüber reden, und als ich dann dachte, jetzt täte es mir gut, hat niemand mehr gefragt.“ Ablenkung und Zuflucht findet sie bei der Familie, bei der Arbeit auf ihrem Hof mit den Tieren, in der Natur. Die 64-Jährige ist mit einer lebensbejahenden Art gesegnet. „Man muss offen dafür sein, was es noch Schönes gibt.“ Manchmal kommen Moser im Gespräch die Tränen. Sie lässt sie laufen. „Ich schäme mich nicht dafür.“

Ihren beiden Mädchen erzählt sie lange nicht, dass die Tante ermordet wurde. Doch Kinder sind feinfühlig. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Als sie größer sind, treibt vor allem die ältere, Anne, die Mutter an, bei der Polizei nachzuhaken. Für Moser oft frustrierend: „Es war jedes Mal jemand anderes am Telefon. Und oft wussten die Polizisten gar nicht, worum es geht.“ Dass sich die Ermittler nie von sich aus melden, verletzt sie. „Wenn einfach mal jemand angerufen und gesagt hätte, wir haben das nicht vergessen. Das hätte schon geholfen.“ Vor etwa drei Jahren wird Tochter Anne selbst aktiv, sucht einen Privatermittler und einen Anwalt, der Akteneinsicht beantragt. Vom DNA-Treffer, der nach einem Vierteljahrhundert zu einem Tatverdächtigen führt, wird die Familie überrascht. Moser ist sich sicher, dass der Fall ohne den Druck ihres Anwalts in der Schublade verschwunden wäre.

Eineinhalb Jahre bevor Brigitta stirbt, findet ein Treffen der Schwestern in Stuttgart statt. Moser denkt oft daran. „Das war unheimlich schön.“ In den Wochen vor der Tat will sie immer wieder anrufen, vergisst es. Die Kinder, der Hof. Dann ist es zu spät.

Tage nach dem Mord wird die Leiche frei gegeben. Das letzte Bild der Schwester hat sich eingebrannt. „Sie sah aus wie Schneewittchen“, erinnert sich Moser. Und noch etwas anderes fällt ihr auf. „Sie haben uns gesagt, im Gesicht gäbe es keine Verletzungen. Aber das Gesicht war verändert. Man hat ihr den Schrecken und die Angst angesehen.“

Die spätere Beerdigung läuft wie in einem Film an Moser vorbei. Es seien unheimlich viele Leute da gewesen. Darunter auch Zivilpolizisten, falls der Täter vorbeischaut. Doch der bleibt verschwunden. Bis zum Februar 2020: Da wird Hartmut M. dank des DNA-Treffers und verfeinerter Kriminaltechnik verhaftet. Ein Mann, von dem Brigittas Familie das erste Mal hört. Opfer und Täter, so auch die Überzeugung der Ermittler, haben sich nicht gekannt. Ab September wird dem einstigen Topmanager, der wegen Totschlags und versuchter Erpressung vorbestraft ist, in Stuttgart der Prozess gemacht. Anfang Juli wird er wegen heimtückischen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Zweite Runde nicht ausgeschlossen. Die Revision ist bereits angemeldet.

Froh über den Schuldspruch

Daran mag Nicola Moser aber gar nicht denken. Sie ist froh über den Schuldspruch, froh, dass der Prozess nun vorbei ist. Zehn Monate hat sie bei fast keinem der gut 30 Termine gefehlt. Jedes Mal fünf Stunden Hin-, fünf Stunden Rückfahrt. Nur einmal musste sie den Saal verlassen. Als der Kronzeuge der Tat schilderte, wie Brigitta noch versucht hat, auf den Unterarmen von der Straße zu kriechen. Ein grausiges Bild, gleichzeitig aber ist Moser froh, dass sie jetzt mehr weiß, mehr Details kennt. „Wir dachten immer, die Britt sei sofort tot gewesen. Aber sie hat noch gekämpft. Wie eine Löwin.“ Ein weiterer Kreis, der sich für sie schließt. Als Kind war der Löwe Brigittas Lieblingstier.

Abschließen, Ruhe finden – die Sehnsucht danach ist Moser anzumerken. „Der Prozess ist anstrengend gewesen. Aber das hat sein müssen“, sagt sie. Es seien viele Fragen nicht geklärt worden. Aber wenigstens habe sie jetzt die Gewissheit, „dass derjenige, der sich das Recht genommen hat, Brigitta von der Welt zu nehmen, zu einem gerechten Urteil geführt worden ist“. Das zumindest muss sie annehmen, wenngleich M. nie gestanden hat.

Am Ende bleibt für Nicola Moser ein Wunsch. Dass die Geschichte ihrer Schwester nicht vergessen wird. Deren Name soll in diesem Text daher auch voll genannt werden. Es habe in dem Fall viel Schlamperei gegeben, und sie hoffe, dass das Anlass für die Polizei sei, die Dinge künftig gründlicher anzugehen, sagt Moser. Sie spielt unter anderem darauf an, dass Hartmut M. schon direkt nach der Tat ins Visier geraten, sein Alibi aber nicht genauer überprüft worden war. „Ich möchte außerdem auch ein Signal an andere Angehörige senden, dass man nicht aufgeben soll. Auch wenn man denkt, das bringt nichts mehr.“

 



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Erstellt:
31.07.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 5min 05sec
zuletzt aktualisiert: 31.07.2021, 06:00 Uhr

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